Parkplatz

Parkplatz

 

Einmal im Jahr musste Richard Wantuch als Kind zur Beichte gehen. Schon Tage vorher bat er seine Mitschüler, ihm ihre Sünden zu verraten, und suchte in Filmen und Literatur nach Beichtbarem, das er nie begangen hatte. Schließlich stellte Wantuch eine Auswahl von brauchbaren Sünden zusammen und übte ihren Vortrag für die bevorstehende Beichte. Zweiundfünfzig Jahre lang erfuhr niemand, was in Richard Wantuch wirklich vorging. Wovon auch immer er behauptete, dass er es bereute oder dass es ihn erfreute, war von anderen abgeschaut. Nur an einem Tag, dem letzten Urlaubstag des Jahres 2015, als der zweiundfünfzigjährige Wantuch, der sonst nie trank, auf das Urlaubsende anstoßend drei Gläser Wein mit seiner Frau getrunken hatte und ebenfalls zum Abschied vom Besitzer des Restaurants, in dem die Wantuchs im Urlaub seit zweiunddreißig Jahren täglich zu Mittag und zu Abend aßen, zu weiteren drei Gläsern Wein eingeladen wurde, verriet Richard Wantuch eine wirkliche, innere Neigung. »Freust du dich auf zu Hause? Worauf freust du dich am meisten?«, fragte Frau Wantuch ihren Mann. Und Richard Wantuch antwortete: »Wenn ich auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt ins Auto steige und die Einkäufe bereits verstaut habe und schon losfahren will, warte ich, bis ein anderes Auto vor mir hält. Der Fahrer gestikuliert, um mich zu fragen, ob ich wegfahre und er meinen Parkplatz haben kann. In diesem Moment nehme ich irgendeinen Zettel aus dem Handschuhfach und tue so, als würde ich konzentriert lesen. Ich blicke nicht zu dem anderen Fahrer auf. Ich warte, bis er aufgibt und weiterfährt. Erst dann starte ich den Wagen, fahre los und bin zufrieden, dass ich dem anderen Fahrer meinen Parkplatz nicht überlassen habe. Darauf freue ich mich am meisten.«