Abschied von der Demokratie

Abschied von der Demokratie

30. September 2019

Mein politisches Erwachen fand 1986 statt. Damals folgten wichtige politische Umbrüche knapp hintereinander: Kurt Waldheim, von der ÖVP nominiert, wurde trotz (oder wahrscheinlich eher aufgrund) seiner NS-Vergangenheit Bundespräsident; Franz Vranitzky wurde Kanzler, Jörg Haider (der erste Politclown Österreichs) FPÖ-Obmann; es gab Neuwahlen, und die Grünen zogen erstmals in den Nationalrat ein. Die Augen der Welt waren vor mehr als 30 Jahren auf die UdSSR gerichtet, die durch die Perestroika eine Welle politischer Liberalisierung und einen tiefgreifenden Umbruch erlebte, der das Geschick der Welt veränderte.

Zum politischen Denken gehört die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Ein zentrales Thema der österreichischen (und der deutschen) Vergangenheit ist, wie in den 1930er-Jahren die Demokratie zerstört werden konnte, welche Mechanismen damals wirkten, wie eine Wiederholung verhindert werden kann.

Die Sichtweise auf die Bedrohung der Demokratie ist heute allerdings anders als in den 1980er-Jahren. Damals galt das Diktum, die Demokratie sei ohnehin abgesichert, wenn es breiten Wohlstand gebe. Und ich muss zugeben, dass ich keine Sekunde daran gedacht habe, dass zu meinen Lebzeiten Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit in Gefahr sein könnten. Doch heute ist es so weit. Und es ist ein vermeidbarer Abschied von der Demokratie.

Die politische Ordnung der Welt kannte Ende der 1980er-Jahre drei Staatsformen: Demokratien, kommunistische Staaten (die sich als Demokratien bezeichneten, aber Pseudo-Demokratien mit totalitären Zügen waren) und offen totalitäre Staaten, also Diktaturen und absolute Monarchien. Die Rivalität zwischen den westlichen Demokratien und dem Kommunismus führte zu einem Buhlen der beiden Rivalen um die totalitären Staaten. Von ihnen erhielt man billig Rohstoffe, die Autokraten wiederum kaufen Waffen; man benutzte sie in Stellvertreterkriegen gegen den Erzrivalen.

Ab 1989 schlugen die einst kommunistischen Staaten zwei Wege ein: Die einen glichen sich den Demokratien an, die anderen verwandelten Staatsbesitz durch Korruption in den Privatbesitz einer kleinen Schicht und schufen Oligarchien, also wieder Pseudo-Demokratien mit totalitären Zügen.

Im Zuge der Verwandlung der Ostblockstaaten entstanden den westlichen Demokratien aber zwei neue Probleme: Erstens waren die Diktaturen ihnen lästig geworden, und zum Teil wandten sich Staaten, die sie als Stellvertreter hochgerüstet hatten, gegen sie; zweitens blickten die westlichen Kapitalisten neidisch in den Osten und sahen, um wieviel einfacher es dort war, die Bedingungen für Profitsteigerung zu schaffen. Hatte das Kapital im Westen bis dahin auf konservative Parteien gesetzt und von ihnen erwartet, dass sie die Macht des Staates zurückdrängten, Steuererleichterungen schufen und den Handel freier machten, ging ihnen diese Entwicklung mit Blick auf die Oligarchien nicht schnell genug. Der Befund des deutschen Soziologen Harald Welzer lautet: »1989 ist das Jahr, mit dem die Modernisierung aufhörte.«

Inzwischen hat sich das Kapital von den Konservativen längst abgewandt – und setzt stattdessen auf Politclowns, schrille Quereinsteiger, die traditionelle Parteien umkrempeln und keine Berührungsängste mit Rechtsextremen haben, Regierungen zerstören, den Parlamentarismus abwerten, Journalisten einschüchtern und ohne politisches Programm auskommen. Das Kapital finanziert diese Entwicklungen in vielen Ländern über weltweite Netzwerke. Solch ein Politclown hat auch die ÖVP in kürzester Zeit umgekrempelt, ihren Namen und ihre traditionelle Farbe ausgetauscht, das Personal ausgewechselt und ist eine Koalition mit der rechtsextremen FPÖ eingegangen. Es ist nicht der erste Versuch der ehemals bürgerlichen Partei, diese Rechtskoalition zu etablieren. Diesmal greift sie aber nach Mitteln, von denen man bisher die Finger ließ: Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit und politische Kontrolle von Polizei und Justiz.

Die Spitzenpolitik, die Wirtschaft, die Medien und die öffentliche Meinung sind an dieser Entwicklung beteiligt. Was die Spitzenpolitik betrifft, bin ich nicht enttäuscht, weil ich nie getäuscht wurde. Der Umbau der ÖVP in eine rechte Partei samt Koalition war bereits 1986 geplant; damals war der innerparteiliche politische Konsens noch breit genug und der Parteivorstand stimmte dagegen. Heute ist die Stimmungslage anders. Was seit 2017 geschieht, war erwartbar. Die Berührungsängste gegenüber dem Rechtsextremismus sind verschwunden. Die Angleichung von ÖVP und FPÖ ist weitgehend abgeschlossen. Der Politclown der ÖVP plakatiert Slogans, mit denen der frühere Politclown Haider warb. Die Abhängigkeit von finanziellen Netzwerken ist evident und der veränderte politische Wille nur Symptom eines Defizits: Gerade rechte Politiker pochen immer wieder auf nationale Eigenständigkeit, haben diese aber selbst völlig aufgegeben. Auch ist der neue Frontmann der früheren ÖVP ein austauschbarer Politclown, sein Schicksal hängt am Willen mächtiger Geldgeber. Dass er selbst zu bestimmen hätte, glauben nur uninformierte, kritiklose Anhänger.

Die Enttäuschung über die Medien ist groß. Von einer vierten Gewalt kann keine Rede mehr sein. Der Wahlkampf hat offengelegt, dass kritische Berichterstattung nicht mehr existiert. Hier zeigen sich Probleme, die man seit dreißig Jahren übersieht und die nun zur Katastrophe geführt haben: Von allen großen Zeitungen bleiben eine Tageszeitung und eine Wochenzeitung, die nicht offen für die ÖVP schreiben, für sie Wahlwerbung machen und ihre Wordings unreflektiert übernehmen. In allen anderen Zeitungen wird der neuen ÖVP in vorauseilendem Gehorsam zugejubelt, ja in Leitartikeln sogar suggeriert, die Wahl sei ohnehin entschieden. Es ist auch nicht ihr Schaden. Kaum war die ÖVP an der Regierung, wurde der Geldhahn für wohlgesonnene Medien durch überteuerte Inserate geöffnet.

Viele der bürgerlichen Journalisten frönen dabei einem Revanchismus, der seit Jahrzehnten im notorisch frustrierten konservativen Lager heranwächst und von der chronischen Erfolglosigkeit der ÖVP gegen die Sozialdemokratie herrührt: In 47 Jahren – von 1970 bis 2017 – hielt die SPÖ 43 Jahre lang die Parlamentsmehrheit, stellte über 41 Jahre den Bundeskanzler und gewann 13 von 15 Wahlen. Nach dazu hat die SPÖ ihre Parteimedien aufgegeben, während die ÖVP heute praktisch alle Tages- und Wochenzeitungen hinter sich versammelt hat. Fraglich ist freilich, ob es sich angesichts dieser Lage und der Tatsache, dass die beiden rechten Parteien die gesetzlichen Wahlkampfvorgaben bereits 2013 überschritten haben, bei den soeben abgehaltenen Wahlen um tatsächlich demokratische Wahlen handelte.

Die Öffentlichkeit, scheint mir, ist ob der Übermacht des Kapitals paralysiert, gefügig und weitgehend passiv gemacht. In einem Zeitalter, in dem Überwachung durch Konsum einfach möglich ist, scheint das Volk sich mehrheitlich für den Konsum – und gegen die Demokratie – zu entscheiden. Dem Einzelnen ist das Smartphone wichtig, das pünktliche Einlangen des Zalando-Pakets – und die soziale Abgrenzung durch negative Kriterien: Musste erfolgreiche Politik einst versprechen, das Leben des Individuums zu verbessern, so muss sie heute zeigen, dass sie das Leben vieler anderer verschlechtert. Die Armut anderer reicht zur Zufriedenheit mit der eigenen Lage aus. Man muss es offen sagen: Wir waren schon einmal weiter.

Dennoch bin ich der Meinung, dass mit Ausnahme von ÖVP und FPÖ alle Parteien ein Interesse daran haben, um unser Land zu kämpfen. Sie alle haben Fehler gemacht, aber nicht so kapitale Fehler, dass man ihnen das Engagement für Freiheit und Demokratie ansprechen könnte. Es wird ihnen gelingen müssen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, wie dringlich die Rettung der Demokratie ist. Dazu sind sie auf die Möglichkeit, in den Medien adäquat und objektiv behandelt zu werden, aber angewiesen. ÖVP und FPÖ ist die Rückkehr zum demokratischen Konsens zu wünschen. Vielleicht lässt sich dann der endgültige Abschied von der Demokratie verhindern.