Die Müdigkeit der Bürger

Die Müdigkeit der Bürger

17. Oktober 2019

In Österreich fanden seit 2008 keine demokratischen Nationalratswahlen mehr statt. Exorbitante Überschreitungen von Wahlkampffinanzierung und die Verzerrung der Medienlandschaft durch Korruption und Anfütterung machen sie unmöglich. Doch die Demokratie ist nicht tot und linke und liberale Parteien sind auch nicht müde, wie die Regierung gerne über ihre Propagandakanäle verbreitet. Im Gegenteil: Diese Parteien sind es, die sich der Verhöhnung von Parlament und Justiz durch die ÖVP, ihren Kanzler und ihren Parlamentspräsidenten vehement entgegenstellen.

Die Landtagswahl in Wien zeigt: Linke und liberale Parteien legen zu, rechte, demokratiefeindliche Parteien verlieren. Angesichts dieser Tatsache musste ÖVP-Medienstratege Fleischmann am Sonntag zu einer brachialen Methode greifen: der Umkehrung von Tatsachen.

Im ORF konnte man Zeuge dieser Umkehrung werden: Martina Salomon (Kurier) war neben den Balken eingeblendet, die den Zuwachs bei den Wiener Regierungsparteien SPÖ und Grüne zeigten, und schloss: Die Regierung hat verloren. Weil aber ohnehin nur drei weitere türkise Sympathisanten — Rainer Nowak (Die Presse), Christian Rainer (profil), Hans Bürger (ORF) — anwesend waren, blieb die Realitätsverweigerung unwidersprochen. Und auch eine weitere Umkehrung: Wien-Bashing sei eine Erfindung von Michael Ludwig. Offensichtlich liest Frau Salomon ihre eigene Zeitung nicht. Das ist verständlich: Die Hersteller von Billigfleisch essen das Zeug, mit dem sie Millionen machen, auch nicht selbst. Warum Standard oder FALTER zu einer solchen Runde nicht eingeladen werden, liegt auf der Hand: Hier werden Desinformation und Fehlinformation zugunsten parteipolitischer Werbung betrieben. Debatten und die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten weichen der Meinungseinfalt.

Am Wahlabend war der einzige Unterschied zwischen Österreich und den früheren kommunistischen Diktaturen, denen Kurz’ Medienpolitik nacheifert, dass dort nicht nur die Berichterstattung, sondern auch das Wahlergebnis aus der Propagandaabteilung der Regierung geliefert worden wäre. Noch ist es nicht so weit. Und doch sorgte einer der besten Freudschen Versprecher der österreichischen Fernsehgeschichte von Moderatorin Nadja Bernhard für Erheiterung: »Wenn mich die Regierung, äh, die Regie richtig informiert hat …«

Nicht genug, dass die Medien im Mehrheitsbesitz ÖVP-naher Institutionen statt Analysen Propaganda verbreiteten. Auch die Webseite orf.at, die trotz ihres Erfolgs und ihrer hohen Qualität und Reichweite seit Kurzem einen zweiten Chefredakteur benötigt, der zwar keine Erfahrungen im Online-Journalismus, dafür aber Loyalität zur Liste Kurz als Qualifikation nachweisen kann, brachte fast den ganzen nächsten Tag als Haupttitel eine These, die Christian Rainer schon in oben genannter Werbesendung formuliert hatte: Die ÖVP habe mehr Stimmen von der FPÖ gewonnen als die SPÖ.

Der Wahlausgang wurde also folgendermaßen umgekehrt: Die SPÖ hat Stimmen verloren, die ÖVP die meisten Stimmen von der FPÖ geholt (Was übrigens nicht aus dem Wahlergebnis abgeleitet wird, sondern aus Wählerstromanalysen, die ausschließlich auf Umfragen mit niedrigen Befragtenzahlen basieren). Garniert wurde die Jubelmeldung mit einem Bild, von dem Gernot Blümel und Sebastian Kurz lächeln. Und was spricht eigentlich gegen einen Landeshauptmann Blümel? Schützenhöfer hat es mit 28 % als Zweiplatzierter zum Landeshauptmann geschafft und Wolfgang Schüssel mit 27 % als Drittplatzierter sogar zum Kanzler. Die ÖVP hat Erfahrung darin, Wahlergebnisse zu ignorieren, und sich mit anderen Rechtsparteien zusammenzuschließen, um Sozialdemokratische Regierungen zu verhindern, auch wenn die SPÖ eine Wahl gewonnen hat.

Doch nicht nur Zeitungen und Fernsehen redeten den Wahlerfolg der linken und liberalen Parteien klein. Auf Twitter verbreitete Claus Pándi von der Kronen-Zeitung die Messages: Michael Ludwig sei »kein Visionär« und die SPÖ sei »müde«. Wollen wir die Wahrheit hinter dieser Verkehrung verstehen, müssen wir sie nur umdrehen. Die Medien sind müde. Sie hängen — allen voran die Krone — an der Geldspritze der Regierung. In einem Zustand, der zwischen Entzugserscheinungen und dem Verlangen nach einer höheren Dosis pendelt, kümmert sie die Realität nicht. Kein Wunder bei einer Zeitung, die durch ihren Verkauf 5 % des Umsatzes erwirtschaftet. Die Regierung gibt diesem Drängen regelmäßig nach und hat so in Österreich einen hoch subventionierten Boulevard geschaffen, der seit Jahrzehnten gegen die Sozialdemokratie und für Rechtspolitiker wie Haider, Strache, Hofer und Kurz Partei ergreift. Aber die SPÖ regiert Wien seit hundert Jahren, mit Ausnahme der Jahre der Diktatur, als die Partei verboten war. Und da, ja, da liegt die Chance, die jene wittern und twittern, die von Müdigkeit sprechen: in der Abschaffung der Demokratie. So steht es auch im Korneuburger Eid: Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat!

Es wäre zu wünschen, dass SPÖ, Grüne, NEOS und FPÖ im Nationalrat gemeinsam eine rigide Deckelung der monatlichen Zahlungen (auch und besonders der verdeckten Zuwendung durch Inserate) an Medieneigentümer beschließen. Dann könnte sich in Österreich wieder kritischer Journalismus ansiedeln und ausbreiten. Bis dahin bleibt demokratisch gesinnten Menschen nichts anderes übrig, als Propaganda-Sendungen abzudrehen, subventionierte Parteienwerbung in den Zeitungen zu ignorieren und sich anderswo zu informieren.

Das Ergebnis der Landtagswahl in Wien ist: Linke und liberale Parteien legen zu, rechte, demokratiefeindliche Parteien verlieren. Wahrscheinlich würde das Wahlergebnis noch besser aussehen, wenn es tatsächlich unabhängige Medien in Österreich gäbe. Aber Wien hat gezeigt: Demokratie ist möglich! Die Rechten setzen auf die Müdigkeit der Bürger. Wir aber sind mündig und munter.

https://zackzack.at/2020/10/17/not-a-bot-die-muedigkeit-der-buerger