Der Dackel und die Knackwurstsammlung

Der Dackel und die Knackwurstsammlung

3. Dezember 2021

Es ist in diesen Tagen nicht wichtig, über Sebastian Kurz nachzudenken. Und es war auch in den Tagen und Jahren davor nicht wichtig. Es ist aber an jedem einzelnen Tag wichtig, über Österreich nachzudenken, über die Zukunft der Menschen in unserem Land. Dieses Land hat es trotz der Schwerfälligkeit, mit der es sich von der düsteren Vergangenheit der Jahre 1934 bis 1945 lösen musste, doch geschafft, einen demokratischen Konsens zu etablieren. Demokratie funktioniert eben nicht ausschließlich auf Basis von Gesetzen, sie braucht auch einen breiten Konsens, der das friedliche Zusammenleben aller Demokraten und die politische Zusammenarbeit aller Demokraten zum Inhalt hat.

Der demokratische Konsens hat viele parteiübergreifende Entscheidungen in diesem Land möglich gemacht: den Staatsvertrag, die Neutralität, die weltpolitische Positionierung im Kalten Krieg und den Beitritt zur Europäischen Union, um nur einige zu nennen. Dieser Konsens hat als Sozialpartnerschaft jahrzehntelang viele Maßnahmen und Gesetze geschaffen, ohne aus jeder Frage eine parteipolitische Streitfrage zu machen. Und diesen Konsens benötigen wir heute, wo eine Pandemie die Gesundheit der Menschheit bedroht.

Dieser Konsens hat aber auch eine Schwäche: Wenn man ihn verletzt, geschieht nichts. Lange war das für Politiker ein Tabu. In den 1980er-Jahren aber traten sie das erste Mal auf: die Populisten, Demagogen, Führer und Verführer, die zwar keine sachpolitischen Lösungen anbieten, dafür aber wissen, was falsch läuft und Schuldige und Sündenböcke für jeden Missstand nennen können. Ein Prototyp dieser Art von Politiker war Jörg Haider. Der fanatische Jubel der Boulevardpresse machte ihn zu einem Heiligen. Keine Meinungsänderung, kein politisches Scheitern und keine von ihm propagierte Dummheit ließ bei seinen Fans Zweifel aufkommen. Für sie war er das größte politische Talent seit Bruno Kreisky, wie es Haiders Weggefährte Peter Westenthaler formuliert hat.

Allen, die über ein Langzeitgedächtnis verfügen, kam es daher seltsam vor, dass exakt dieselbe Formulierung wie auch alte Plakatsprüche Haiders (verfasst von Herbert Kickl) wortwörtlich wieder auftauchten, als Kurz die politische Bühne betrat – diesmal aber nicht auf Plakaten der FPÖ, sondern auf Plakaten der ÖVP. Und tatsächlich: Kurz entpuppte sich als Wiedergänger Haiders – allerdings ein Haider ohne Eloquenz und ohne Studienabschluss. Dagegen aber hielt sich Kurz – anders als Haider – einen riesigen Stab von PR-Profis, Beratern und Coaches aller Art. Und anders als Haider hatte er ganz konkrete Agenden: die ÖVP unterwerfen, die wichtigsten Medien unterwerfen, Parlament, Justiz und Opposition erniedrigen, wo es nur geht, und Posten ausschließlich mit Günstlingen besetzen.

Die PR-Profis der Liste Kurz, die untadelige Personen wie Reinhold Mitterlehner und Christian Kern mithilfe mutmaßlich gekaufter Medien in kürzester Zeit politisch zertrampeln konnten, wissen seit Monaten, dass es seit der Veröffentlichung der Chats zwischen Kurz und Thomas Schmid nicht mehr darauf ankommt, ob Kurz gerichtlich verurteilt wird oder nicht. Die Menschenverachtung und Arroganz, die aus dieser mit digitaler und politischer Infantilität geführten Kommunikation hervorgeht, zeigt, dass Kurz als Politiker ungeeignet ist.

Jetzt geht es darum, dass die Österreichische Volkspartei ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nimmt. Will die Partei dabei bleiben, die Menschenrechtskonvention zu missachten, Terrorregimes zu akzeptieren, die Armen, Arbeitslosen und Bedürftigen zu drangsalieren und Gewaltenteilung und Pressefreiheit zu torpedieren? Oder will sie zu ihren demokratischen Grundsätzen zurückkehren?

Es wird wohl eine Zeit dauern, bis man die vielen Kurz-Günstlinge, die praktisch alle wichtigen Positionen übernommen haben, wieder loswird. Doch jeder weiß: Mit einem Kurz-Generikum wie Alexander Schallenberg als Kanzler und den aus der dritten Reservemannschaft rekrutierten Ministerinnen und Ministern der ÖVP hat Österreich keine Zukunft. Man kann mit den Grünen bis zum Ende der Legislaturperiode regieren, wissend, dass diese Koalition nach der nächsten Wahl keine Mehrheit mehr haben wird. Das ist die feige Variante.

Die mutige Variante ist, jetzt eine Richtungsentscheidung zu fällen und sich neu aufzustellen. Wenn die ÖVP ihren rechtspopulistischen Kurs hinter sich lässt und wieder paktfähig wird, können wir in einem Land leben, in dem eine große Mehrheit von circa achtzig Prozent sich zur Demokratie bekennt. Wie wir an der Corona-Politik sehen, ist es gerade jetzt wichtig, dass diese Mehrheit an einem Strang zieht. Das wäre schon früher durch Einbeziehung der SPÖ und der Neos in ein überparteiliches Handling der Corona-Maßnahmen wünschenswert gewesen. So zumindest hätte das ein wirkliches politisches Talent gemacht.

Dem Bürger Sebastian Kurz kann ich nur wünschen, dass seine zweite Lebenshälfte von Toleranz, Humanität und Bildung bestimmt ist. Sie werden ihm viel mehr Glück bescheren als seine misslungene Karriere als Politiker. Und er könnte überzeugter Demokrat werden. Franz Vranitzky würde wahrscheinlich sagen: Ehe er das tut, legt sich ein Dackel eine Knackwurstsammlung an. Ich aber gebe Kurz eine Chance.

https://www.derstandard.at/story/2000131624938/kurz-rueckzug-der-dackel-und-die-knackwurstsammlung