Die Zelle als Nullpunkt des Erzählens (Walter Vogl)

Walter Vogl

Die Zelle als Nullpunkt des Erzählens

Ein Versuch über den Wiener Autor Daniel Wisser

Im vorliegenden Aufsatz wird versucht, einen Überblick über das bisherige Schaffen des Wiener Autors Daniel Wisser zu geben, und zwar unter Einbeziehung seiner politischen Kommentare und Aktivitäten als Mitglied einer Band. Die Überlegungen nehmen ihren Ausgang von folgender Hypothese: Wisser ist ein Autor, der aus anti-romantischen Positionen heraus ganz bewusst ein auf innersprachliche Konstruktionsverfahren setzendes Prosawerk geschaffen hat, das auch auf altmodische Weise poetisch sein kann und das von aberwitziger Komik sowie einem tiefen Humanismus geprägt ist. Die Gestalten, welche dieses Erzähluniversum bevölkern, stehen mit einem Bein in der Zelle, dem Nullpunkt von Wissers Schreiben, und mit einem Bein am Abgrund. Interessant zu verfolgen ist, wie der Autor sich mit textinternen Strategien aus monologischen Situationen heraus Sehnsuchtsobjekte, Gegenpole, Doppelgänger und Alter Egos schafft, die in einem von Werk zu Werk reicheren Figurenarsenal aufgehen. Der Aufsatz zeichnet die Stationen auf diesem Weg vom Monolog in der Zelle zum Familienroman nach, an dessen offenem Ende die Figur eines neuerlichen Rückzugs steht.

Beim Versuch, die Entwicklung von Daniel Wissers Werk zu beschreiben, empfiehlt es sich, von zwei Schlagworten auszugehen: Kleinkunst und Kammerspiel. Der Begriff Kleinkunst steht seit den 1920er Jahren für kabarettistische Bühnendarstellungen und andere einschlägige Veranstaltungen, die innerhalb eines kleinen Rahmens stattfinden. Daniel Wissers Bücher sind voll von im übertragenen Sinn kabarettistischen Einlagen seiner Protagonisten sowie Gags des Autors. Vor allem die frühen Werke Wissers haben zugleich einen ausgeprägt kammerspielartigen Charakter. Der Begriff Kammerspiel meint hier jedoch nicht das bürgerliche Kammerspiel, das in reduzierter Form Hochkultur ermöglicht hat, sondern bezieht sich auf eine durch unterhaltsame Kleinkunst und im weitesten Sinn durch popkulturelle Einsprengsel gebrochene Form. Dazu muss man wissen, dass Daniel Wisser ein sehr vielseitiger Künstler ist und bereits auf eine mehr als ein Vierteljahrhundert lange Karriere als Musiker im Ersten Wiener Heimorgelorchester zurückblicken kann, einer LoFi-Band, die in den Worten eines Kritikers „wohlklingenden Elektroschrott“ in der Tradition von Trio und Kraftwerk produziert. Insofern gibt es auch ein Naheverhältnis zur Performance, deren Elemente Wisser in der Vergangenheit vor allem auf Lesungen von Kurztexten übertragen hat.

Daniel Wissers Romane sowie seine Arbeiten für das Theater sind aus ganz bewussten Engführungen heraus entstanden. Zugespitzt könnte man auch sagen: Das Ich-Gefängnis, das man sich räumlich als Zelle vorstellen muss, wird bei Wisser zum Nullpunkt des Erzählens. Von einem Urschmerz ausgehend, entstehen durch Wiederholungen, Variationen, Permutationen, Spiegelungen und Rückkoppelungen geprägte Texte, deren Vernetzung im Laufe von Wissers Autorenkarriere immer voluminösere Romane ergibt. Die Protagonisten, am ehesten dem kleinbürgerlichen Angestelltenmilieu zuzurechnen, befinden sich meist in klar definierten und eingegrenzten Räumen und in Situationen, die zwischen alltäglich und kafkaesk changieren. Sie führen eigenbrötlerische Existenzen, ihre Handlungen sind zwanghaft, sie haben einen gewissen Hang zur Pedanterie und werden im Lauf der Zeit aus seltsamen Käuzen zu psychiatrischen Grenzfällen mit einem hohen Aggressionspotential. Gut versteckt lebt in diesen Persönlichkeiten ein Amokläufer, ein Terrorist, ein Massenmörder. Diesen Aspekt seiner Figuren hat der Autor bisher jedoch wohlweislich unter Verschluss gehalten. In eng definierten Innenräumen schaffen sich diese Leute ihren imaginären Speaker’s Corner, von dem aus sie das Unwesen der kapitalistischen Gesellschaft anprangern und als Gegenbild dazu beängstigende und von sozialdarwinistischen Ideen und Männerphantasien gespeiste Utopien entwickeln.

Die wie eine Flutwelle alles mit sich reißende Krise kommt demnächst. Davon ist der Mitarbeiter eines Call Centers, der die Hauptfigur in Daniel Wissers zweitem Roman Standby ist, überzeugt.

Es wird noch genug Zeit sein, vom Beginn seiner Arbeitslosigkeit bis zum Ausbruch der ersten Gewalttätigkeiten und Unruhen, um eine Burg auszusuchen, die Vorräte dorthin zu schaffen und Sabine abzuholen. Es wird viel zu tun sein auf der Burg. Das gesamte Leben wird Systemerhaltung sein. […] Stolz wird er von seinem Aussichtsturm auf die untergegangene Welt blicken.

Und des Weiteren heißt es dann, dass „Arbeit und Fruchtbarkeit“ die Grundlagen der neuen Zivilisation würden, in welcher der Call-Center-Angestellte „mit drei oder vier Frauen ein Heim gründen und sich um den Bestand der Art kümmern“ werde. Das ist einerseits beängstigend, ist aber andererseits grundiert von einem abgrundtiefen Humor an der Grenze zum Zynismus.

Daniel Wissers Texte entwickeln sich aus eng begrenzten Innenräumen heraus und haben stark monologischen Charakter: Dieser Tatbestand gilt zumindest für seine ersten drei Romane. Fein abgestuft und in verschiedenen Variationen entwickelt sich dieses Monologisieren, fächert sich langsam auf und verteilt sich in späteren Werken auf immer mehr Personen. Den bisweilen klinisch steril anmutenden Settings seiner Bücher und deren bis zur Veröffentlichung des Romans Ein weißer Elefant programmatischer Monotonie begegnet der Autor mit einem hohen Grad an Einfallsreichtum und schafft so eine Prosa, deren Markenzeichen die Überzeichnung ist, ebenso die Verdrehung, die Travestie, die Betrachtung im konvexen Spiegel, die comicartige Verknappung und das Komödiantische. Die Kratzbürstigkeit, Skurrilität, Kauzigkeit, Grenzwertigkeit, Besessenheit, Verlorenheit und Überdrehtheit der Helden wird unterstrichen durch plötzliche slapstickartige Wendungen, oft bewirkt durch bloße Verschiebungen von Anfangsbuchstaben oder Auslassungen, die Wissers Bücher für seine Leser zu erzählerischen Achterbahnfahrten werden lassen. „Mein Kampf“, also das Buch Adolf Hitlers, erlebt auf diese Art eine Neuauflage als „Kein Mampf“, was unter Einbeziehung des Kontexts, in dem diese Worte geäußert werden, meint, dass kein Essen im Kühlschrank sei. Der Ausspruch Die Letzten werden die Ersten sein wird in der umgewandelten Form Die Letten werden die Esten sein zum Titel eines der bekanntesten Songs des Ersten Wiener Heimorgelorchesters.

Wissers Texte stehen in einem Naheverhältnis zu den Arbeiten der Wiener Gruppe, ohne jedoch deren Verabsolutierung des Semantic turn zu übernehmen. Er knüpft sowohl an sprach- und sozialkritische Positionen der österreichischen Literatur der siebziger Jahre an als auch an postmoderne der achtziger Jahre sowie an Traditionen des neuen Erzählens, die mit der Beat Literatur verbunden sind. Wisser recycelt dabei geschickt die Übertreibungskunst Thomas Bernhards und die Verfremdungseffekte Franz Kafkas. An wichtigen Einflüssen zu nennen sind ferner Ror Wolf und Andreas Okopenko, beide Meister der Verschrobenheit. Auch mit dem Werk von Clemens J. Setz gibt es zahlreiche Überschneidungen. Als Beispiele genannt seien hier nur der strategische Einsatz von Obszönität und Grausamkeit, die Einbeziehung von Apokryphen der internationalen Subkulturen und die Verwendung von Paratext.

Kleinteiligkeit ist ein weiteres wichtiges Merkmal der vielschichtig angelegten Bücher Daniel Wissers. Die Romane sind aus einer Unzahl von Szenen komponiert, die maximal sechs bis acht Seiten lang und meistens deutlich kürzer sind. Vor allem in den letzten beiden Romanen können viele dieser Szenen auch als allein stehende Episoden gelesen werden, nicht zuletzt der Aufmerksamkeit erzeugenden Titelphrasen wegen. Im ersten, nach dem ehemaligen US-Präsidentschaftskandidaten Michael Dukakis benannten Teil des Romans Königin der Berge, lauten die Szenenüberschriften wie folgt: 1 Aus der Rollstuhlperspektive,
2 Das Muttermal, 3 Das Schwesternalphabet, 4 Michael und Kitty (Dukakis, Anm. Vogl), 5 Das japanische Mädchen, 6 Simbabwe, 7 Der suprapubische Blues, 8 Der Wein korkt, 9 Seeleopard, 10 Umlernen, 11 Der Substitut, 12 Melissa.

In diesem ersten Teil (genauer gesagt: von Seite 9 bis Seite 65) werden auf engem Raum Namen und Begriffe miteinander verbunden, die nicht nur ein geographisches Netz zwischen Afrika, Amerika, Japan und Europa aufspannen, sondern auch thematisch äußerst vielfältig sind. Die Welt gibt sich ein Stelldichein im Zimmer des Pflegeheim-Patienten Robert Turin, der trotz seiner schlechten gesundheitlichen Aussichten von der Libido und dem Verlangen nach Wein beherrscht wird. Die erzählerische Kernzelle dieses Romanprojekts hingegen ist denkbar eng: ein steriles Krankenzimmer, bevölkert von einem Patienten, der bereits seit vielen Jahren und bedingt durch sein Leiden auf Welt-Entzug ist und auch immer größere Schwierigkeiten hat, die Außenwelt korrekt wahrzunehmen und sich verständlich zu äußern (die zweite Person im Zimmer, eine Patientin, kommt nur ganz am Rande vor). Die ungewöhnlichste Überschrift trägt Szene 7 des Menschliches Gemüse genannten fünften Teils von Königin der Berge. Hier steht eine Buchstabenkombination, Ergebnis der Tippversuche des Katers Dukakis mit Schwanz und Pfote auf der Computer-Tastatur, die Herr Turin in einer eigenen Datei abgespeichert hat. Ein Dukakis-Poem hat Turins Frau auf den Überzug eines Kopfkissens gestickt: „kkkijjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjjj“.

Die Geschichte Turins ist über den Kater Dukakis mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten verbunden. Damit kommt auch die Problematik der alternativen Fakten ins Spiel, nicht nur in der großen Politik, sondern auch im Leben der Hauptfigur. Robert Turin sowie sein familiäres Umfeld und die Schwestern im Pflegeheim bedienen sich solcher alternativen Fakten, um Turins Selbstmordversuche geheimzuhalten. Das findet auch im grafischen Erscheinungsbild des Romans seinen Niederschlag. Einen Gastauftritt absolvieren darf Dan Quayle, von 1989 bis 1993 Vizepräsident der Vereinigten Staaten unter George H. W. Bush, dessen Aussprüche damals gesammelt und im Dan Quayle Quarterly publiziert wurden, einem heute zum Sammlerstück gewordenen Magazin, aus dem in Königin der Berge zitiert wird. Dan Quayle war ein Meister des sprachlichen Fehltritts, und seine Reden sind dort angesiedelt, wo die extremsten Formen von Nonsens eine Art von Bedeutsamkeit erlangen, die man beinahe philosophisch nennen könnte. Auf der Fahrt zu Turins Freitod nach Zürich beispielsweise mischt sich die Stimme Quayles ins Gespräch zwischen Robert Turin und Katharina Payer ein. Als Katharina, Turins Therapeutin und letzte Geliebte erfährt, dass Herr Turin seine Frau nicht wie abgemacht über die Fahrt in die Schweiz informiert hat, weigert sie sich, ihn weiter zu fahren. Darauf Dan Quayle, stellvertretend für Robert Turin: „Ich verdiene Respekt für alles, was ich nicht getan habe.“

In Sachen Kürze der Szenen ist der Erzählband Unter dem Fußboden ein Extremfall. Er enthält Kurz- und Kürzest Geschichten sowie Lebensläufe und strotzt vor abstrusen Fakten, die der Verfasser mit Hilfe von Suchmaschinen aus den entlegensten Winkeln des Internets herausgekitzelt hat und die trotz ihrer auf den ersten Blick geringen Glaubwürdigkeit weitgehend verifizierbar sind. Unscheinbare Manipulationen und Zugaben des Autors verschieben diese momenthaft aufblitzenden Randnoten aus der Geschichte der Menschheit in eine Grauzone, wo die Grenze zwischen unerhörter Begebenheit und Phantasmagorie fließend ist. Gut veranschaulicht das die Erzählung Rolltreppe:

Der Plan des Architekten Makanov, eine Rolltreppe bis zum Gipfel des 7495 Meter hohen Pik Kommunismus zu bauen, wurde nie verwirklicht. Der Pik Kommunismus wurde 1998 in Pik Ismoil Somoni umbenannt, die Pläne für die Rolltreppe gelten als verschollen und Makanov soll zuletzt als Kellner im Restaurant einer Pizzakette gesichtet worden sein. Er gilt als arrogant und mürrisch, manche sagen, er weigert sich, Rolltreppen auch nur zu benutzen, und er soll zu einem Gast gesagt haben: Wer hier Pizza isst, ist selbst schuld!

Den oben genannten Berg gibt es wirklich. Er befindet sich in Tadschikistan. Auch die Umbenennung ist belegbar. Die längste Rolltreppe der Welt jedoch führt von der City in Hongkong auf den Victoria Peak. Sie ist 800 Meter lang, besteht eigentlich aus 20 hintereinander geschalteten Rolltreppen und überwindet 135 Höhenmeter. Die utopische Energie, die der Kommunismus in Künstlern freigesetzt hat, lässt es als nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass das Projekt einer Rolltreppe auf einen Siebentausender in Tadschikistan zumindest auf dem Papier existiert hatte.

Daniel Wisser ist ein Autor, der die Werke der Wiener Avantgarde losgelöst von der Atmosphäre der Kulturkämpfe der fünfziger und sechziger Jahre bereits als Konsumprodukt kennengelernt hat. Sein Umgang mit den poetologischen Positionen der Wiener Gruppe zeugt von der entspannten Haltung einer Generation, die wesentlich stärker von der Neuen Deutschen Welle als von den klassischen Avantgarden beeinflusst wurde. Ähnlich wie sein Mentor, der Wiener Dichter Andreas Okopenko, zielt Wisser auf die spielerische Erzeugung von Sprachräumen ab, glaubt jedoch nicht an einen Eigenwert der Sprache losgelöst von ihrem Wirkungszusammenhang. Auch diese Ansicht teilt er mit Okopenko. So wie die Musik seiner Band Erstes Wiener Heimorgelorchester eine Art von Retro-Variante der Neuen Deutschen Welle ist, verhalten sich auch seine Texte in Bezug auf die Popliteratur der achtziger Jahre mit ihrem Primat eines neuen und welthaltigen Erzählens. Wisser widerspricht dieser Forderung mit seiner Konzentration auf Innenräume nur scheinbar. Seine Texte entwickeln sich aus monologischen Situationen, in denen sich die Protagonisten und Erzähler ihre eigenen Pendants, Spiegelbilder und Gegenstücke schaffen.

Im ersten Roman, Dopplergasse acht (eigentlich ein Langgedicht in 45 Strophen), ist dieser Prozess der Erzeugung von Dialogizität jenseits des Selbstgesprächs nur durch Bezugnahme auf das gegenüberliegende Wohnhaus möglich, dessen „adventkalenderfassade“ der im Wonnemonat Mai liebestrunkene Protagonist aufmerksam beobachtet, lebt dort doch die von ihm angebetete Ingrid. Dem persönlichen Kontakt zieht er, der ebenso wie die Hauptfigur in Ein weißer Elefant ein leidenschaftlicher Fenstergucker ist, die Observierung über die Straße hinweg vor. Das hat zur Folge, dass er beobachtend auch in den Alltag der Nachbarn Ingrids involviert wird. Dort wohnt unter anderem der Schriftsteller Z., der an dem Versuch, aus der genauen Menge der Buchstaben von Thomas Manns Zauberberg ein neues Werk des Titels Bergzauber zu schaffen, frühzeitig scheitert, und zwar aus dem Grund, weil er den gesamten Vorrat des Buchstabens Ü unbedacht schon in den ersten Zeilen zur Gänze aufbraucht. Des Weiteren wird der Leser Zeuge, wie eine sogenannte „katzenkorbfrau“ regelmäßig von ihrem „volvoliebhaber“ besucht wird, mit dem sie dann ein „volvokatzenduo“ bildet, und erhält auch Einblick in das Leben einer „prügelundeissalonlügenfamilie im mezzanin“. Langsam wagt sich der Held dieses Projekts einer verbalen Inbesitznahme der Welt durch bizarre Substantivketten aus der Wohnung auf die Straße und in die allernächste Umgebung vor und gibt Einblicke in die Chronik der Grausamkeiten des Wiener Arbeiterbezirks Simmering. Der früher selbst im Genre Umweltschutz-Lyrik tätige empfindsame Erzähler ist angesichts einer Änderung im Alltag Ingrids, die bewirkt, dass sie ihm nicht zur gewohnten Stunde hinter ihren Fenstern erscheint, in hohem Maße irritiert und befürchtet, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Zu seiner großen Erleichterung taucht sie schließlich nicht nur wieder auf, sondern schenkt ihm sogar, zum ersten Mal überhaupt, über die Straße hinweg ein bezauberndes Lächeln. Im Verhältnis zu Ingrid, das geprägt ist von der extremen Schüchternheit und Empfindsamkeit des Erzählers und in einem Moment höchster Glückseligkeit gipfelt, ist bereits seine mögliche Entwicklung hin zu einem Stalker angelegt. Wie ein zarter Schmelz liegt das Element der Satire auf diesem gegen die Intention des naiv-sentimentalen Erzählers aus dem Ruder laufenden Text, in dem ein leitmotivisch eingesetzter und durch seine Schreibung in Großbuchstaben vom nahezu durchgehend klein geschriebenen Rest abgehobener Latrinenspruch über den ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger regelmäßig wiederholt wird: „FUT ARSCH NUDEL KIRCHSCHLÄGER RUDEL“.

Im dritten Roman des Titels Ein weißer Elefant, der die extremste monologische Situation in Wissers Werk darstellt, ist das Gegenüber rein fiktiv. Der Trick besteht darin, dass sich der Monologisierer eine Art Alter Ego erfindet, und dieses zugleich zum Erzähler des Romans wird. Das heißt: Der Monologisierer ist letztlich eine Kreation derjenigen Figur, die er selbst, um sich in Relation zur Welt setzen zu können, erschaffen hat. Zudem ist es nie sicher, ob dieses Alter Ego außerhalb der Phantasie Monologisierers lebensfähig ist oder nicht. Von einer Metaebene aus gesehen, kann das wiederum nur bedeuten, dass der Autor die Position des Erzählers leer lässt, beziehungsweise dass die Existenz des vorliegenden Textes zweifelhaft ist.

In Wissers zweitem Roman Standby unternimmt der Autor den Versuch, eine Geschichte im Passiv zu erzählen, was bewirkt, dass große Teile der Handlung wie aus dem Off gesprochen wirken. Das Roboterhafte der Protagonisten in Standby und Ein weißer Elefant verdankt sich auch der intensiven Beschäftigung mit dem 1978 erschienenen siebten Studioalbum Mensch-Maschine der Band Kraftwerk, vom dem das Erste Wiener Heimorgelorchester im Jahr 2014 eine Coverversion herausgebracht hat. Hier geht es, angelehnt an Fritz Langs Film Metropolis, um die Verschiebung des Mensch-Maschine-Verhältnisses. Die Maschinen übernehmen in einer hochtechnisierten Welt das Kommando über ihre Erzeuger.

Wissers bisher erfolgreichstes Buch, sein fünfter Roman Königin der Berge ist eine Abkehr von den technoiden Strategien der Postmoderne.. Hier wird nämlich ein konkretes Thema, das seit Jahren sehr kontrovers diskutiert wird, der assistierte Selbstmord unheilbar kranker Menschen, ins Zentrum der Handlung gestellt. Der Erzähler und Protagonist, Robert Turin, hält insofern Distanz zur eigenen Person, als er über sich in der dritten Person spricht. Robert Turin leidet an multipler Sklerose. Sein ganzes Denken ist nur darauf ausgerichtet, die Schweiz zu erreichen, bevor er endgültig zum totalen Pflegefall wird und die Kontrolle über seinen Körper verliert. In der Schweiz ist der assistierte Freitod, also die aktive Sterbehilfe, für den sich Turin angesichts der Ausweglosigkeit seines Schicksals entscheiden hat, legal. In dem Moment, als Turin dem Pflegeheim und einer ganzen Armee von ihm sexuell belästigter Pflegerinnen, die er in einem sogenannten Schwestern-Alphabet zusammengefasst hat, entkommt, wird die Erzählung in der dritten Person konsequenterweise zur Ich-Erzählung. Turin ist wieder Herr seines Lebens.

Das sogenannte Schwestern-Alphabet ist eine Hommage an Andreas Okopenko, der bereits 1970 in seinem Lexikon-Roman, der Geschichte einer sentimentalen Wachau-Reise, die Einzelteile des Buches wie Artikel in einem Lexikon alphabetisch angeordnet und diese durch ein ausgeklügeltes System von Verweisen miteinander vernetzt hatte. Es ist auch eine von Wissers früheren Romanen her bekannte Eigenheit seiner Protagonisten, die Namen der sie umgebenden Menschen in imaginären Zettelkästen alphabetisch zu ordnen und in Momenten der Anspannung mechanisch von vorne nach hinten und von hinten nach vorne zu deklamieren. Dabei können einzelne Buchstaben des Alphabets durchaus symbolische Bedeutung erhalten. In Dopplergasse acht etwa findet der Erzähler heraus, dass in den Vornamen seiner bisherigen Freundinnen der Buchstabe I gehäuft auftaucht, während der Schriftsteller Z. mit seinem Romanprojekt am Buchstaben Ü scheitert: Es handelt sich hierbei auch um Reminiszenzen an die Konkrete Poesie, deren Traditionslinien bis in die Literatur des Manierismus zurückreichen.

Königin der Berge bringt inhaltlich so verschiedene Themen wie die Behindertenintegration und österreichisches Lokalkolorit, amerikanische Politik und Subkultur sowie fernöstliche Philosophie zusammen. Auch das gesamte, in den davor erschienenen Büchern entwickelte erzählerische Instrumentarium Wissers wird dort versammelt und um eine Tierstimme erweitert, die aus dem Jenseits ertönt und die Handlungen des Erzählers kommentiert, ihn kritisiert oder ermuntert. Dieses Verfahren wurde im unmittelbar vorangegangenen Roman Löwen in der Einöde bereits angewendet. Dort wird die Stimme aus dem Jenseits dem Maler Tintoretto zugeordnet.

Löwen in der Einöde ist ein Buch über die prekäre politische Situation in Österreich in den Jahren 2015 und 2016, aber auch ein Erinnerungsbuch an die siebziger Jahre, an die lange und in die achtziger Jahre reichende Ära des Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger, dem ja bereits in Dopplergasse acht eine Art Denkmal gesetzt worden war, das der Autor im Grenzbereich zwischen Scherz, Ironie, Travestie, Parodie und höherer Bedeutung angesiedelt hatte. In Löwen in der Einöde finden sich übrigens auch schon viele der Themen wie Rechtspopulismus, Ausländerfeindlichkeit und Flüchtlingsproblematik, die im Zentrum von Wissers bisher letztem Roman, Wir bleiben noch, stehen. Obwohl das Buch vielfach mit Wissers früherem Erzählwerk verbunden ist, markiert es doch auch einen Bruch im Schaffen des Autors: Die Protagonisten brechen aus ihren Zellen aus, schreiten in die Welt hinaus, gewinnen an Tiefe und Glaubwürdigkeit. Das auftretende Personal sowie die Zahl der Schauplätze werden deutlich erweitert und die Thematik wird aktueller und politischer. Mit nur 125 Seiten ist Löwen in der Einöde ein sehr schmales Buch. Der Autor arbeitet mit Verknappungen und einem extremen Minimalismus und entwickelt seine Geschichte aus einer Doppelgängerkonstellation heraus, indem er zwei Männer gleichen Namens auftreten lässt, deren Schicksale sich ebenso überschneiden wie jene ihrer Frauen und der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Das alles erinnert immer noch an Wissers frühere und stark von Kafka beeinflusste Werke, jedoch mit einem Unterschied: Die Lebensverhältnisse werden weniger schematisch gezeichnet und der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem sie agieren, erscheint wesentlich konkreter.

Abgesetzt von den in direkter Rede geschriebenen Passagen finden sich Dialoge, die wie Minidramen in den Text eingefügt sind und durch welche der Leser direkter angesprochen wird. Diese Einschübe unterbrechen und strukturieren die erzählenden Abschnitte. Der Text erhält dadurch ein höheres Maß an Unmittelbarkeit. Erste Spuren davon finden sich schon in Standby. In Königin der Berge wird dieses Verfahren dann durchgehend verwendet.

Michael Braun, der Familienname spielt auf die bis in die Gegenwart nachwirkende österreichische NS-Vergangenheit an, ist ein Studienabbrecher, der an einer akademischen Arbeit über den venezianischen Maler Tintoretto gescheitert ist, jedoch immer noch ein intensives Verhältnis zu diesem Maler unterhält.
Wie dann später auch der Kater namens Dukakis in Königin der Berge gibt Tintoretto der Hauptfigur Handlungsanweisungen und Anstöße und lässt sich von ihr in Diskussionen verwickeln. Ferner spielen ein Gimpel namens Seppi sowie eine Taube wichtige Nebenrollen in diesem Drama um eine exotische Geliebte aus der Jugendzeit Michael Brauns, die plötzlich verschwindet. Brauns Verdacht, dass sie von ihrem autoritären Mann, dem späteren Geliebten seiner verwitweten Mutter, in einem Kellerverlies gefangen gehalten wird, bewahrheitet sich nicht. Sein Wehret den Anfängen kommt nicht nur zu spät, sondern läuft ins Leere. In dieser Hinsicht ist er Victor Jarno, der Hauptfigur von Daniel Wissers bisher letztem Roman Wir bleiben noch, zum Verwechseln ähnlich. Löwen in der Einöde ist eine Studie in gesellschaftlicher Ausgrenzung und menschlicher Gewalttätigkeit, die sich an den titelgebenden Löwen entlädt: Sterben müssen Tiere, gemeint sind Menschen.

Die in Löwen in der Einöde entwickelten erzählerischen Strategien werden in Königin der Berge wieder aufgegriffen, aber in einem wesentlich breiteren epischen Zusammenhang entwickelt. Mit dem Komplex Sterbehilfe und assistierter Selbstmord wird hier eine sehr ernste Thematik eingeführt, angereichert mit einer zum Teil absurden sowie zynischen Komik und abgehandelt in Form einer Tragikomödie. Schon allein dieser Umstand bewirkt, dass es sich hier nicht um einen „Wohlfühltext“ im Sinne von Moritz Baßlers „Midcult“- Aufsatz handelt. Verglichen mit früheren Romanen Wissers haben wir es hier mit einer zusammenhängenden Fabel zu tun sowie einer stark aufgefächerten Erzählung. Das Geschehen wird aus wechselnden Perspektiven beleuchtet. Das Figureninventar ist durch vielfältige Anekdoten und in einem Verhältnis fein abgestufter Abhängigkeiten und Formen der Machtausübung mit Robert Turin verbunden. Viele Passagen sind unterschwellig erotisch. Robert Turin überschreitet in dieser Beziehung des Öfteren die Grenze des Erlaubten: ein Don Juan im Rollstuhl, der seine weibliche Umgebung trickreich
zu manipulieren weiß, und der auch nicht vor Sexismus gefeit ist.

Königin der Berge ist unter den Werken Wissers insbesondere in Hinblick auf das Druckbild das exzentrischste. Manche Sätze sind durchgestrichen, aber lesbar: „Herr Turin ist nicht ich. Herr Turin ist ein anderer.“ Eine gewisse Koketterie ist diesem Rimbaud-Verweis nicht abzusprechen. In letzter Konsequenz wird hinter allen männlichen Protagonisten in Wisser-Romanen der Autor sichtbar, denn Wissers um 1970 geborene Anti-Helden gehören nicht nur seiner Generation an, sondern werden auch mit je verschiedenen Details seiner Familiengeschichte ausgestattet. Wie Daniel Wisser ist beispielsweise auch Robert Turin im Burgenland aufgewachsen. Auffällig viele der männlichen Romanfiguren  arbeiten wie einst der Autor im Bereich der Computer- und Informationstechnologie.

Bei durchgestrichenen Sätzen wie dem oben zitierten handelt es sich um Passagen, die dem Erzähler entweder unpassend, zu banal oder zu vage erscheinen. Des Weiteren gibt es geschwärzte Ausdrücke, deren Inhalt sich aus dem Kontext erschließt. Sie beziehen sich auf einen Selbstmordversuch Turins im Pflegeheim und markieren Sprechstörungen, die sich infolge eines plötzlichen Krankheitsschubs manifestieren. Die Durchstreichungen und Schwärzungen können auch gehäuft auftreten und nebeneinander stehen. Außerdem gibt es zweispaltig gesetzte Passagen in direkter Rede, die entweder wie im Film Annie Hall von Woody Allen konkurrierende Versionen eines Sachverhalts wiedergeben oder schwer Verständliches auf der linken und dessen Erklärung auf der rechten Seite enthalten. Dazu finden sich Gedichte und ein von Anfang an leitmotivisch eingesetzter Kinderreim, in dem es um das Nach-Hause-Fahren, also letztlich um Turins Tod geht. Turins ursprüngliche Absicht ist es, für seine letzte Fahrt, die Reise in die Schweiz, die Webapplikation des Taxi- und Beförderungsservices Uber zu verwenden. Obwohl er selbst ursprünglich aus der IT-Branche kommt und die Vorbereitungen zum Freitod in der Schweiz mit einem Tablet durchführt, scheitert er bis zuletzt an dem komplexen Online-Reservierungsvorgang.

Königin der Berge ist gleichzeitig eine Chiffre für die Krankheit und der Name eines Westerns mit Ronald Reagan. Dem Attentat auf den Schauspieler-Präsidenten ist ein ganzer Abschnitt im Roman, der in der Vielfalt der Bauformen und seinem oft bizarren Humor von einer tiefen Humanität geprägt ist, gewidmet.

Wie die Figur Victor Jarno im folgenden Buch, dem Familienroman Wir bleiben noch, ist auch Robert Turin fast ausschließlich von Frauen umgeben. Bedenkt man, wie gut sich die Patienten eines Pflegeheims und das dort tätige Personal im Laufe der Jahre kennenlernen und eine Gemeinschaft bilden, so ist auch Königin der Berge in gewisser Weise bereits ein Familienroman. Die zwei Großmütter werden liebevoll Nana und Urli genannt. Sie bilden Ruhepole in schwierigen Zeiten, deren augenscheinlichstes Merkmal die Krise der liberalen Demokratie ist. Karoline, die Cousine Victors, findet dafür die folgende Formel: „Das Volk wird immer wirer.“ Zwei Pflegerinnen aus Südosteuropa erinnern an die Krankenschwestern, von denen Robert Turin umgeben ist. Sie haben ein Gastspiel am Anfang von Wir bleiben noch. So wie Turin ein kurzes Verhältnis mit seiner Schwägerin, einer Ärztin mit dem Spitznamen Beba hat, so hat auch Victors Vater Konrad ein Verhältnis mit der Schwester seiner Frau, deren Mann wegen seines italienischen Vaters den rassistisch konnotierten Spitznamen Bimbo trägt. In beiden Romanen findet eine gewisse Auflockerung des Druckbildes statt. Königin der Berge mag da eine Spur radikaler angelegt sein, doch auch in Wir bleiben noch findet sich Ungewöhnliches: Zu nennen wären hier Paratexte, kursiv gesetzte Zitate und Tagebucheinträge sowie SMS-Konversationen, die voll sind mit kreativ zur Wortbildung eingesetzten Emoticons. Die Schreibung des Wortes Apokalypse beispielsweise wird dadurch abgekürzt, dass nur „A“ und „ypse“ ausgeschrieben werden, wohingegen für den Pokal-Teil das passende Emoticon verwendet wird.

Das Politische ist privat und das Private politisch – nichts illustriert diesen Sachverhalt so treffend wie Daniel Wissers bisher letzte Buchveröffentlichung Wir bleiben noch, in der es vordergründig um die Geschichte der Sozialdemokratie geht, erzählt mit Hilfe eines Familienromans, der vier Generationen der Familien Jarno und Sandbichler umfasst (wobei die jüngste noch im Kindesalter ist). Entstanden ist so eine zwischen Tragik und Komik oszillierende Jeremiade, der auch das Sentimentale nicht fremd und die geprägt ist von einem hintergründigen und scheinbar leichtfüßig die Grenzen des guten Geschmacks verletzenden Sprachwitz.

Schauplätze der Geschichte sind ein Ort namens Heiligenbrunn im südlichen Wienerwald in Niederösterreich sowie das seit Jahrzehnten sozialdemokratisch regierte Wien und die zum Speckgürtel Wiens gehörende Stadt Mödling, die wegen ihrer Bürgerlichkeit zum Hassobjekt des dort aufgewachsenen Protagonisten wird. Im Zentrum des Romans stehen der zu Beginn 47jährige Victor Jarno sowie seine um knapp vier Jahre jüngere Cousine Karoline Grill. Victor ist, mit den Augen seines Vaters gesehen, das „hässlichste Kind“, und in Karoline sieht ihr Stiefvater ein „Reh im Urwald“. Victor lebt in Scheidung und ist unterwegs ins innere Exil, während Karoline eben aus einem siebenjährigen Exil aus Norwegen nach Österreich zurückgekehrt ist, weil ihr Lebensgefährte sie ohne Vorwarnung verlassen hat. Victors und Karolines Liebesgeschichte, die an das Tabu der Kusinenheirat rührt, überlagert das Thema der Sozialdemokratie und ist der eigentliche Motor des Romans: Sie bringt alles in Gang und hält die Handlung auf Trab und sie führt zu gravierenden Konflikten innerhalb der Familie, nicht zuletzt indem über Generationen gepflegte Geheimnisse enthüllt werden. Victor, von seinem Vater, einem überzeugten Sozialdemokraten, nach Victor Adler, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs benannt, sieht sich selbst als letzten Sozialdemokraten sowie Vertreter einer aussterbenden Spezies. Der Roman, dessen einzelne Kapitel mehr oder weniger den Monaten von September 2018 bis Oktober 2019 folgen, spielt in einem vom Vormarsch der Mitte-rechts-Parteien geprägten und von Skandalen erschütterten Österreich. Die Massenmedien, so der Befund Victors, sind gekauft und die Politik ebenso, und zwar von einer Gruppe im Verborgenen wirkender Oligarchen.

Die einst so stolze Sozialdemokratie, die Österreichs politischer Kultur in den 1920er Jahren und dann wieder seit den siebziger Jahren ihren Stempel aufgedrückt hat, ist drauf und dran, zu einer bedeutungslosen Kraft zu werden, weil sie zu so polarisierenden Themen wie Migration und Islamisierung keine mehrheitsfähigen Antworten findet. Die Hauptfigur verkörpert dieses Dilemma exemplarisch. Victor ist ein eher ungewöhnlicher Sozialist: Ein introvertiertes und zur Weltflucht neigendes Einzelkind aus einer Akademikerfamilie, ein ebenso scheuer wie scharfzüngiger Schwadroneur und Vertreter der von seiner Cousine ironisch als „Victor-Kommunisten“ bezeichneten opportunistischen Sozialdemokratie: „Die Victor-Kommunisten arbeiten für amerikanische Privatfirmen und haben eine Eigentumswohnung.“ Tatsächlich ist Victor jedoch weder Aktivist noch Parteimitglied. Seine Mutter, zu der er ein schwieriges Verhältnis hat, und die, obwohl Sozialdemokratin, aktuell Rechtsparteien wählt, hingegen schon. Doch dieser Victor, eine Mischung aus Joseph Roths Trotta, der sich auch als letzter seiner Art empfindet, und Robert Musils Ulrich, der Urlaub vom Leben nimmt, hat es nicht leicht, entstammt er doch einer „todessehnsüchtige(n) Familie“. Er ist ein exemplarischer Vertreter des Typus alter weißer Mann, und das seit seiner Kindheit, denn schon im Alter von sieben Jahren hatte er sein erstes weißes Haar. Seine Großmutter väterlicherseits war schwer depressiv, sein Vater, der schon bald seinen Job aufgibt und die restlichen Jahre seines Lebens als Hausmann verbringt, erschießt sich.

Doch nicht nur bei den Jarnos, auch bei den seit Generationen sozialdemokratischen Sandbichlers, der Familie von Victors Mutter, „gab es immer nur Probleme“. Daher ist es kein Wunder, dass Victors erste Lebensgefährtin Barbara, mit der er neun Jahre verbringt, Krankenschwester ist. Seine Cousine und spätere Frau Karoline, mit der er erst nach 30 Jahren Verliebtsein zusammenkommt, ist Ärztin und Pathologin, aber keine Sozialdemokratin, sondern Grüne, und noch dazu nicht Vertreterin des linken, sondern des realpolitischen Flügels der Ökologiebewegung. Im Gegensatz zu Victor ist sie extravertiert und kann sehr schroff sein. Auch sie ist nicht ganz ohne Widersprüche: Innig liebt sie ihr Auto, geht politische Kompromisse am Rande der regelmäßig Schießübungen und geht mit den Männern des Ortes auf die Jagd und ins Gasthaus.

Auffällig ist, dass Victor fast ausschließlich von starken Frauen umgeben ist. Aus Karolines Perspektive kann dieser Victor, obwohl ein Softie und Gegner der ausländerfeindlichen Einstellung, die in seiner Familie angesichts steigender Migration Platz gegriffen hat, durchaus „misogyn und rassistisch“ auftreten. Traditionelle Wiener Kaffeehäuser meidet er, weil sie „voller Chinesen“ seien. Wohl fühlt er sich hingegen bei einem Glas Bier in einem sogenannten „Nazi-Stüberl“: „Die Nazis im Café waren harmlos und ignorierten Victor. Der Nazi-Kellner war langsam, aber gutmütig. Ein angenehmes Lokal.“ Auch der Anblick des Leichnams seiner Mutter im Krankenhaus versetzt ihn in eine „seltsame Stimmung. Er hätte gerne Sex gehabt mit Karoline. Jetzt.“ Auf der Fahrt nach Hause folgt ein weiteres Bekenntnis: „Keine Sekunde dachte er an seine Mutter. Er war von sich selbst schockiert. Er war es, der grässlich hässlich war.“

Wir stoßen hier auf einen Nachhall des vor allem in Daniel Wissers zweitem Roman Standby breit ausgearbeiteten Ekel-Motivs. Daneben nimmt auch Stellung im Roman ein. Ohne Vater müssen nicht nur Victor sowie sein Erzeuger Konrad aufwachsen, sondern auch Karoline, die unter einer ausgeprägten Trennungsangst leidet, sowie ihr Ziehvater Rainer und ebenso die drei Kinder von Karolines älterer Schwester Hanna. Diese driftet, nachdem sie von ihrem Mann verlassen wird, weltanschaulich in einen radikalen Anti-Islamismus ab. An die Stelle von mit starken Vätern treten in Wir bleiben noch solche mit starken Opposition der Kinder, also von Karoline und Victor, ist kompromisslos (auch durchaus vernünftig klingenden Kompromissvorschlägen der Mütter gegenüber) und erfährt ihre höchstmögliche Zuspitzung in einem Schuss, den Karoline aus einem Gewehr auf ihre Mutter abgibt. Auch wenn Karoline absichtlich danebenschießt und bei dem Vorfall bloß Fensterscheiben
zu Bruch gehen, handelt es sich um einen symbolischen Muttermord.

Wir bleiben noch ist ein an Motiven und Symbolen äußerst reicher und zudem auf vielen Ebenen spielender Roman, der zwar hochaktuell, aber auch mit einem ausgeprägten Bewusstsein für Geschichte angelegt ist: Im Zentrum der Handlung steht, wie schon erwähnt, ein Ort im südlichen Wienerwald namens Heiligenbrunn. Heiligenbrunn ist der alte Name eines wegen seiner heilenden Quelle bekannt gewordenen Wallfahrtsortes, der seit 1444 St. Corona am Schöpfl heißt und der für Victor mit lebenslanger „Isolation und Quarantäne“ verbunden ist, die im Roman jedoch nicht Folge einer Pandemie, sondern Existenzbedingung eines jeden aufrechten Demokraten im Angesicht der herrschenden politischen Verhältnisse sind: So sieht es zumindest Konrad, der ebenfalls zu Rückzug und Abkapselung neigende Vater Victors.

Das Netz der im Roman aufgespannten Bezüge reicht nicht nur in die Epoche des Austrofaschismus, sondern literarisch bis ins 18. Jahrhundert zurück. Eine Art von Tribut an das sentimentale 18. Jahrhundert und dessen Nachwirkungen in der Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts scheinen mehrere emotional aufwühlende und mit ironischem Augenzwinkern erzählte Passagen zu sein. Da heißt es etwa: „Es waren schon genug Tränen an diesem Tag geflossen, aber beide [Karoline und Victor, W. V.] hatten noch etwas Tränenflüssigkeit in Reserve.“ An anderer Stelle heißt es:

Sie begann zu weinen. Victor umarmte Karoline. Victor hielt Karoline fest. Aber wer hielt ihn fest? Er hatte kein Geschirrtuch, um sich gegen die viele Flüssigkeit zur Wehr zu setzen. Feuchte Tische, feuchte T-Shirts, feuchte Augen – Victor hatte Ekel vor allem Feuchten. Am liebsten hätte er ein Tuch geholt und mit dem Wischen begonnen.

Für die Figur des Victor zentrale Romane sind Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas sowie Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski. Wie Der Graf von Monte Christo, so spielt auch Daniel Wissers jüngster Roman in einer Zeit, die im Zeichen schrankenloser Bereicherung steht. Wie Victor flieht auch der Graf, nachdem er seine Rache über Gebühr ausgelebt hat, in die Einsamkeit. Das Motiv der Rache ist auch bei Victor anzutreffen, wenngleich eher versteckt. Sein Rachebedürfnis gilt einer seiner Meinung nach zu weit nach rechts abgedrifteten Gesellschaft. Da scheint nur mehr gewaltsamer Widerstand zu helfen. Ebenso beim Streit um das Erbe der Großmutter, das Haus im ländlichen Heiligenbrunn. Wie bei vielen von Daniel Wissers eher stillen  introvertierten Protagonisten, ist auch bei Victor ein Umschlagen seiner Sanftheit in Aggression durchaus vorstellbar. Darauf weisen die Internet-Konten hin, die er bei Waffenfirmen unterhält.

Victor hasst seinen Job und kündigt diesen nach 18 Jahren. Zu Beginn des Romans ist er bereits seit zwei Jahren Privatier: Er hat genug Geld gespart, um damit bis an sein Lebensende auskommen zu können. Aufgrund lebensweltlicher Ereignisse wie der Scheidung von seiner Frau Iris sowie dem Entschluss, mit Karoline zusammenzuziehen und im Haus der verstorbenen Großmutter auf dem Land alt zu werden, fluktuiert Viktors Vermögen stark. Am Ende jedoch kommen zu seiner Wiener Eigentumswohnung noch zweieinhalb Häuser sowie Sparbücher und Investmentfonds, welche die Mutter ihm hinterlässt, dazu. Er profiliert sich den gesamten Roman hindurch als scharfer Kritiker des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des modernen Überwachungsstaates im Allgemeinen sowie der gegenwärtigen politischen Verhältnisse Österreichs im Besonderen. Seine politischen Aktivitäten bleiben hingegen weit hinter seiner Rhetorik zurück. Sie erreichen ihren bescheidenen Höhepunkt in der Umbenennung des Fernsehzimmers im von der Großmutter geerbten Haus in „Victor-Adler-Zimmer“.

Als Einzelgänger ohne Freunde zieht es ihn zurück in eine rosig ausgemalte Vergangenheit, und dennoch muss er überrascht feststellen, wie der Wunsch nach einem Kind zum alles beherrschenden Thema seines Lebens wird. Schon allein der Gedanke, dass seine Ex-Frau Iris, die von ihrem neuen Lebenspartner schwanger ist und nach der Scheidung Victors Familiennamen beibehalten hat, ihr Baby Caroline taufen könnte, bringt ihn fast um den Verstand. Denn das Kind würde dann Caroline Jarno heißen und nicht einmal von ihm sein. Die Chance, Vater zu werden, hatte Victor übrigens vor der kinderlosen Ehe mit Iris schon einmal, doch leider zur falschen Zeit. Seine erste Lebensgefährtin Barbara war von ihm schwanger geworden; man hatte sich für eine Abtreibung entschieden.

Zwei Todesfälle, eine Scheidung und eine Hochzeit sowie zwei echte und zwei Scheinschwangerschaften fallen in den Zeitraum, der die unmittelbare Handlung des Buches abdeckt. Das politische Geschehen findet seinen Höhepunkt in der sogenannten Ibiza-Affäre, der Veröffentlichung eines Video-Zusammenschnitts, in deren Folge der ehemalige österreichische Vizekanzler und Vorsitzende der rechtspopulistischen FPÖ seinen Rücktritt erklärt. Daraufhin kollabiert die Koalitionsregierung aus Christlichsozialen und Rechtspopulisten. Auch hier sind wieder vollkommen konträre Reaktionen von Cousine und Cousin auszumachen. Während Karoline von der Hoffnung auf Veränderung erfasst wird und die Sektkorken knallen lässt, zieht sich Victor, in der festen Überzeugung, dass sich nichts ändern werde, nur noch weiter zurück. „Es passiert das Falsche aus den falschen Gründen“, lautet seine Diagnose, die er jedoch für sich behält.

Nicht einmal ansatzweise lässt der Autor Victor und Karoline über mögliche Einwände gegen das Ibiza-Video37 reflektieren, dessen Entstehung und propagandistischen Einsatz durch die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Spiegel“. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Videos schreibt der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem nicht unumstrittenen Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung:

Die Selbstverständlichkeit, mit der die von dubiosen Hintermännern gestellte Videofalle zu einem legitimen Akt zivilgesellschaftlichen Engagements hochstilisiert wird, verwundert dann doch etwas.

Liessmanns Schlussfolgerung lautet, dass die FPÖ „nicht über ihre Nähe zum Rechtsextremismus, sondern über das Protzgehabe eines Parvenüs“ (gemeint ist damit Heinz-Christian Strache, der ehemalige Vizekanzler und zentrale Figur im Video) gestolpert sei.

Auch Victor, der sich im von der Großmutter geerbten Haus in Heiligenbrunn noch vor der Lektüre literarischer Texte in die Schriften Karl Kautskys vertieft und dort Parallelen zur gegenwärtigen Lage sucht, geht in seiner Diagnose der politischen Malaise in Österreich letztlich über seinen Befund zum Ibiza-Video hinaus. Seine Anamnese beginnt mit der Wahl des wegen seiner Kriegsvergangenheit umstrittenen ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten im Jahr 1986 und führt über die erste Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ hin zu den neuen Rechtspopulisten. Der Untergang der Demokratie werde aber auch durch die Verbreitung des Smartphones und der sozialen Medien beschleunigt, ebenso durch den Onlineversandhändler Amazon. Im Verlauf des Romans verengt sich Victors Ursachenforschung zunehmend hin zur Generationenfrage. Als Hauptschuldige gerät zuerst die Generation der Mütter von Victor und Karoline ins Visier und schließlich Victors und Karolines Generation, die den Ernst der Lage nicht rechtzeitig erkannt und nicht mit kompromisslosem Widerstand darauf reagiert habe.

Victors politische Positionen sind in Vielem identisch mit denjenigen des Autors, der im Onlinemagazin ZackZack unter dem Titel Not a Bot regelmäßig Kolumnen veröffentlicht, die sich vor allem durch seine Fundamentalopposition charakterisieren lassen. ZackZack ist ein linkspopulistisches Recherche-Magazin, das von Peter Pilz, einem
ehemaligen Grünen-Abgeordneten, der in Österreich als Aufdecker politischer Skandale gilt, nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos gegründet wurde. Doch in Wir bleiben noch geht Daniel Wisser andere Wege. Der Erzähler (nicht identisch mit dem Autor der Geschichte) scheint im Bund mit Victor und auch Karoline zu stehen. Letztere nimmt jedoch durch ihre Kritik an Victors Person eine ganze Menge an Perspektivierungen vor, die ihn in einem anderen Licht erscheinen lassen. Dies gilt auch umgekehrt, vor allem in Hinblick auf Karolines Engagement für die Grünen. Aus der Sicht von Dritten, zum Beispiel von Bekannten Karolines, wirkt das von Cousin und Cousine so idealisierte Haus, das sie von der Großmutter geerbt haben und jetzt gegen die Ansprüche ihrer Mütter verteidigen müssen, eher durchschnittlich und ein wenig heruntergekommen.

So parteiisch dieses Buch erscheint, so subtil wird doch die Botschaft der Protagonisten gebrochen. Da ist einerseits Victor selbst, welcher der Sozialdemokratie mit schlechtem Beispiel vorangeht und dessen Widersprüchlichkeit seine Glaubwürdigkeit beschädigt. Da sind andererseits die politischen Auseinandersetzungen zwischen Victor und Karoline und ihren Müttern, starken Frauen, die früher weit links standen und jetzt eher Mitte-rechts angesiedelt sind. Dass Karoline und Victor prinzipiell allen Vorschlägen der Mütter gegenüber mit unversöhnlichem Trotz reagieren, zeigt, wie tief die Wunden innerhalb der Familie sind. Schließlich ist da auch noch der Erzähler, der nicht nur parteiisch ist, sondern auch unzuverlässig und sich in der Datierung der Liebesbeziehung Victors und Barbaras irrt, die dem Erzähler zufolge ins dreizehnte
Lebensjahr der beiden zurückreichen und sich mit der Liebe Victors zu Karoline überschneiden müsste. Davon ist jedoch nirgendwo die Rede. An anderer Stelle heißt es, dass Victor seine Freundin Barbara um oder nach 1995 kenngengelernt hat, und die Beziehung mit Barbara in eine Zeit fällt, als Karoline bereits in einem Krankenhaus arbeitete. Karoline ist jedoch 1975 geboren und die Trennung von Barbara erfolgte bereits 1994, also zu einem Zeitpunkt, als Karoline erst am Anfang ihres Medizinstudiums gewesen sein kann.

Aber auch etwas anderes wird sichtbar: In Victor lassen sich Züge des Herrn von Lips ausmachen. So wie Nestroys Posse Der Zerrissene als Satire auf den Sentimentalismus seiner Zeit gelesen wird, so lässt sich Wir bleiben noch auch als Satire auf den gegenwärtigen Weltschmerz der österreichischen Sozialdemokraten lesen und ganz allgemein als Kommentar zu einem in Österreich herrschenden „weinerlichen Verhältnis zur Demokratie“ (Konrad Paul Liessmann). Über die Sozialdemokratie ließe sich in Abwandlung eines Buchtitels des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg über sein Heimatland nach der Lektüre von Wir bleiben noch durchaus mit einem gewissen Maß an Optimismus sagen: Die Sozialdemokratie am Ende, am Ende die Sozialdemokratie.

Daniel Wissers Familienroman ist dennoch ein eher trauriges Buch. Die Hoffnungslosigkeit der Lage wird, wie so oft in den Büchern dieses Autors, zumindest stellenweise entschärft durch eine Art von Karnevalismus, der zu einem befreienden Lachen führt. „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“, heißt es dazu schon bei Alfred Polgar. Auch wenn die in Wir bleiben noch präsentierte Diagnose ebenso unsicher ist wie die politische Lage, so steht am Ende des Buches doch ein positiver Befund: Karoline und Victor können das Rätsel um den Tod ihres Urgroßvaters lösen und damit wenigstens ein offenes Kapitel in der Familiengeschichte schließen.

Das Ende von Wir bleiben noch bleibt offen. Victors totaler Rückzug aus der Welt führt Daniel Wissers Schreiben letztlich wieder zurück an jenen Ort, von dem seine Romane ihren Ausgang genommen haben: zurück in die Zelle, zurück an den Nullpunkt.

(Erschienen in NEUE BEITRÄGE ZUR GERMANISTIK, BAND 21, Heft 1 2021, Internationale Ausgabe von DOITSU BUNGAKU), S. 125 – 143.