Ereignisse zwischen Suppe und Mund

Daniel Wisser

Ereignisse zwischen Suppe und Mund

(Erschienen im ALBUM der Tageszeitung Der Standard am Samstag, 30. Juni 2012 aus Anlass von Ror Wolfs 80. Geburtstag)

https://www.derstandard.at/story/1339639378777/ror-wolf-ereignisse-zwischen-suppe-und-mund

Der Dichter Ror Wolf wird dieser Tage achtzig und liefert in seinem neuen Buch neunundzwanzig Weltuntergänge

Gamba geht es nicht um das, was man hört, es geht ihm um das, was man nicht hört. So lautet ein Satz aus dem Text Gambas Theater von Ror Wolf. Die Abwesenheit, das Verschwinden, die Stille, die Leere sind das, worüber Wolf schreibt. Vor dem Anfang, nach dem Ende und in den Zwischenräumen, zwischen Suppe und Mund wie es in Fortsetzung des Berichts heißt, sind seine Betrachtungen angesetzt. Doch die Versuche, seine Texte in Kürze zu beschreiben, haben wenig Aussicht auf Gelingen; zu umfangreich, zu vielseitig ist das Werk, das der am 29. Juni 1932 in Thüringen geborene, heute in Mainz lebende Autor geschaffen hat.

Doch so vielfältig Wolfs Werk formal ist, so konsequent, unnachgiebig und eigensinnig beharrt der Autor auf seinem poetischen Programm. Erfolgreich wehrt er sich gegen den Kommerzialisierungsrausch, dem viele im sogenannten Literaturbetrieb aus mangelnder Selbstsicherheit erliegen, gegen die Verlockung unter dem Deckmantel der Aktualität für die Wühlkiste von morgen zu produzieren, gegen den vorherrschenden Irrglauben, dass Narration nicht mehr als das Erzählen eines simplen Plots sein kann, gegen die Literatur, die das Genehme und Gewollte transportiert und uns nicht zur Auseinandersetzung und Konzentration zwingt.

Erstaunlicherweise bekommen wir von Ror Wolf verschiedene Ansichten, wenn wir ihn als Autor von Prosa, von Gedichten oder von Werken für das Radio betrachten. Schon Anfang der 60er-Jahre im Hessischen Rundfunk tätig, wo er viele junge Autoren mit ihren Texten zu Wort kommen ließ, hat Ror Wolf verschiedenartigste Sendungen geschaffen. Besonders seine Texte, Hörspiele und Radio-Collagen über Fußball sind bis heute populär und widersprechen dem Bild des abgehobenen, elitären Autors, das Rezensenten immer wieder entworfen haben.

Aber auch andere Arbeiten gelten heute als Klassiker radiofoner Literatur und haben Wolf renommierte Preise eingebracht. Bis heute ist mir ein Hörspiel über den Cornettisten Bix Beiderbecke am stärksten in Erinnerung – sowie ein Stück, das der Ästhetik von Ror Wolfs Prosa am nächsten steht: Der Chinese am Fenster.

Als Autor von Gedichten besticht Wolf durch methodische Raffinesse, Humor und die Erschaffung einer enzyklopädischen Welt mit fixer Besetzung, aus der wohl Hans Waldmann als Hauptfigur hervorsticht. In der Lyrik sind die Eigenarten des Autors auf brillante Weise verdichtet: Das Interesse für Orts- und Personennamen, der Hang zur Aufzählung und zu additiven Prinzipien und das surreale, comichafte Setting. Wolf beherrscht die Metren – besonders den fünfhebigen Trochäus – elegant und erweitert die Möglichkeiten des Reims auf virtuose Weise.

Die jahrzehntelange Wertschätzung für seine Gedichte hat Thomas Pfeffer und mich dazu bewogen, mit dem Ersten Wiener Heimorgelorchester ein Ror-Wolf-Gedicht zu vertonen: Das nordamerikanische Herumliegen heißt der Track, der auf unserem aktuellen Album ÜTÖPIE zu finden ist, inklusive einer von Ror Wolf selbst gelesenen Version – hier kann die elegante, tiefe Stimme des Dichters bewundert werden.

Auch Ror Wolfs Prosa ist konsequent – konsequent in ihrer Uneinordenbarkeit und beinahe subversiven Hintertreibung jeder Zuordnung. Sinnvollerweise sollte man die Kurzprosa von der Langprosa trennen. Erstere ist in Gestalt von Sammlungen von Kurz- und Kürzestgeschichten erschienen, die in ihrer Art einzigartig in der deutschen Sprache sind. Zum Einstieg empfohlen sei etwa der Band Mehrere Männer, der die bekannteste Kompilation von Wolfs Mikroromanen ist. Andere kurze Prosatexte erschienen als Wörterbücher oder Betrachtungen von Ror Wolfs Alter Ego Raoul Tranchirer.

Die Reihe von Wolfs größeren Prosawerken beginnt 1964 mit dem Roman Fortsetzung des Berichts. Die unverwechselbare Sprache Wolfs und sein radikales ästhetisches Konzept fanden viel Anfeindung, aber auch die Hochachtung jener, denen die neue Sprache dieses Texts ins Auge sprang. So schreibt Peter Handke 1965, Fortsetzung des Berichts sei im deutschen Sprachgebiet der erste ernstzunehmende Versuch, für den Strom des Bewußtseins eine neue Form zu finden.

Soeben hat Wolf ein neues Buch vorgelegt, dass den Titel Die Vorzüge der Dunkelheit und den Untertitel Neunundzwanzig Versuche die Welt zu verschlingen trägt. Die Gattungsbezeichnung Horrorroman ist mit Vorsicht zu deuten. Obwohl im Text ein Ich spricht, wechselt Wolf ständig zwischen objektivem Erzählduktus und innerem Monolog. Das surreale Setting erlaubt keine konkrete räumliche und zeitliche Einordnung. Die Erzählung macht große Sprünge, die von minutiösen Beschreibungen kleiner Bewegungsabläufe gebrochen werden.

Dabei ist der Einfluss von Peter Weiss, besonders aber von Claude Simon und Alain Robbe-Grillet auf Ror Wolf deutlich. Wolf macht aber etwas Neues aus dem Stil des Nouveau Roman, indem er nicht versucht, ihn im Dienst des Realismus einzusetzen, sondern im Sinne einer surrealistischen Montage. Die Realität ist bei Wolf immer das, was sprachlich ausgedrückt wird, und diese Methode wird in Die Vorzüge der Dunkelheit sogar explizit beschrieben; so heißt es im achten Kapitel: […] ich dachte an das Wort WIRTSCHAFT und schon saß ich in einer Wirtschaft und trank, weil mir das Wort BIER eingefallen war, ein Bier nach dem anderen, und so ging es mein ganzes Leben lang, bis ans Ende der Welt. Die Welt, das ist also bei Ror Wolf ein Gebilde aus Sprache, und auch das Verschlingen der Welt ist letztendlich ein sprachlicher Vorgang. In Zeiten, in denen die Krise und der Niedergang in den Medien täglich bemüht werden, wird uns dieser Umstand schnell bewusst – einmal schmerzhaft, einmal scherzhaft.

Illustriert ist dieses Buch – und damit komme ich zu einem weiteren Teil von Ror Wolfs Werk, den er seit Jahrzehnten konsequent verfolgt – mit 79 Collagen des Autors. Aus Illustrationen alter Lexika und Sachbücher entwirft Ror Wolf irreale Räume und Landschaften: Ansichtskarten der untergehenden Welt.

Was Ror Wolf für mich über sein Werk hinaus repräsentiert, ist die bereits genannte Konsequenz und Unbeirrbarkeit; sie scheint mir vorbildlich in Zeiten des allgemeinen Aus- und Abverkaufs, in Zeiten, in denen Ästhetik und Ethik auf Ramschniveau herabgestuft werden, wie es in den Medien so oft heißt. Der Faktor Realness ist bei Ror Wolf mit der maximalen Punktezahl zu bewerten. Er hat sich als Autor immer hinter den Text gestellt und nicht davor.

Dennoch, obwohl wir von Wolf keine Selbstinszenierungen erwarten können, kein Sich-Hervortun und keine Gedichtwut und Gedichtflut zu aktuellen Themen, wie sie gerade durch die deutschsprachigen Gazetten geistert, sei der Geburtstag ein Anlass, sich über die Person Ror Wolf Gedanken zu machen. Schon ein schnelles Überfliegen seiner biografischen Daten ist höchst interessant: Kindheit und Jugend in der DDR, frühe Auseinandersetzung mit Musik (besonders Jazz), sein Auftritt vor der Gruppe 47, seine Tätigkeit als Radioredakteur, Begegnungen mit großen Autoren wie Samuel Beckett und vieles mehr.

Aber auch die Zwischenräume in seinem Leben, die Ereignisse zwischen Suppe und Mund sind vielleicht eine Welt aus Sprache, die erst zu Papier zu bringen ist. Vor kurzem hat Ror Wolf in der Sendung Druckfrisch (ARD) im Interview mit Denis Scheck angekündigt, an einem autobiografischen Text arbeiten zu wollen. Dass es sich dabei nicht um eine herkömmliche Biografie handeln wird, davon gehe ich mit Selbstverständlichkeit aus.

In diesem Sinne gehen meine Glückwünsche nach Mainz, und um nochmals vom Abwesenden zu sprechen: Im Bücherregal finden sich noch genügend leere Stellen.

(Daniel Wisser, 30.6.2012)