Die Entliterarisierung der Literatur

Daniel Wisser

Die Entliterarisierung der Literatur

Erschienen in der Literaturzeitung Volltext am 5. November 2021

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Nach vierzig Jahren permanenter Kommerzialisierung muss sich auch der Literaturbetrieb – was oder wer das auch immer ist – eingestehen, dass er nicht ewig dabei mitwirken kann, die Flutwelle, die ihn fortzuspülen droht, auch noch mit Wasser zu nähren und zu vermehren. Man kann nicht sagen, dass Pandemie und demokratiefeindliche Tendenzen in westlichen Regierungen die Schwierigkeiten der Belletristik, sich als ernstzunehmende Kraft in der Offenlegung der Missstände der Gesellschaft zu behaupten, erleichtert haben. Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Die neuen Probleme haben aber wenigstens eines geschaffen: größere Klarheit.

Am Ende verbindlicher Richtungen und Moden steht eine Orientierungslosigkeit, die letztendlich wieder Wasser auf die Mühlen der kapitalistischen Taktik ist. Man lässt die Literaten ruhig analysieren und sich über Details zerstreiten. Im Hintergrund wird monopolisiert. Im Hintergrund und inzwischen auch im Vordergrund. Denn seit Alternativen zum Kapitalismus praktisch inexistent sind, gibt es für ihn keinen Grund mehr, seine wahren Absichten zu verbergen.

Schon wenn man heute die Begriffe Belletristik oder ernsthafte Literatur verwendet, macht man sich lächerlich. Zumindest als Produzent. Wer sich auf einen selbst gebastelten Sockel stellt, um dort zu predigen oder über andere zu richten, ist lächerlich. Er gleicht ein wenig den Avantgardisten von früher, die mit schütterem Werk oder gar ohne Werk, jedenfalls aber mit einem hochtrabenden Manifest an nichts anderem gearbeitet haben als an der Abgrenzung von anderen Literaten. Ein negatives Verfahren, das sich selbst bloßstellt, sobald man es umkehrt.

Das heißt aber nicht, dass man sich nicht fragen muss, wo die progressive Literatur heute geblieben ist. Oder Literatur, die sich der Darstellung gegenwärtiger Lebenswelten widmet, ohne dabei Opfer immer stärker werdender Zensur und als Marktlogik gehandelter Zwänge zu werden. Wären es nur die bekannten kapitalistischen Zwänge der 80er- und 90er-Jahre, so hätte man es mit alten Bekannten zu tun. Nun aber scheinen wir in die Zange genommen zu werden. Denn aus einer politischen Ecke, aus der man solche Pressionen nicht erwartet hätte, kommt seit einigen Jahren ein starker Druck, der auf Zensur hinausläuft. Er beginnt mit dem Legitimierungszwang.

Der Legitimierungszwang besagt, dass nur ein homosexueller achtunddreißigjähriger Kellner, der in Wien im achten Bezirk wohnt und den Mount Everest besteigen möchte, über homosexuelle achtunddreißigjährige Kellner, die in Wien im achten Bezirk wohnen und den Mount Everest besteigen möchten, schreiben darf. Die Ironie dieser Formulierung wird leider – so ist es in diesen Zeiten – von der Realität in den Schatten gestellt. Ein großer Streamingkanal hat bereits angekündigt, dass in den Filmen, die er produziert, Menschen bestimmter Herkunft und bestimmter sexueller Orientierung in seinen Filmen nur von Schauspielern derselben Herkunft und sexuellen Orientierung dargestellt werden. Womit das Ende der Schauspielerei erreicht wäre. Womit der jahrtausendealte Vertrag zwischen Publikum und Autor, der Konsens, sich während des Lesens wissentlich einer Fiktion hinzugeben, tot ist. Womit das Theater tot ist. Und der Film.

Die Anzeichen dafür, auch Literatur nach diesen Maßstäben zu bewerten, mehren sich. Die Unterscheidung zwischen Autor, Erzähler und literarischer Figur wird vielerorts nicht mehr getroffen. Sagt eine Figur etwas in einem Roman, so geht man davon aus, dass es die Meinung des Autors ist. Hat die Hauptfigur einen Vater, so muss es der Vater der Autorin oder des Autors sein. Dass Thomas Mann einen Roman in Ich-Form schrieb, sich im Buch aber Felix Krull nennt, müsste – wäre es nicht verjährt – zur polizeilichen Anzeige gebracht werden. Kein Wunder, dass Autoren wie Karl Ove Knausgård, die diese Einebnung der Voraussetzungen für fiktionales Erzählen mit ihrem Werk befördern, dafür mit Applaus zugeschüttet werden. Die angestrebte Aufhebung der Fiktion durch tausende Seiten Ich, Ich, Ich übertüncht die – auch für biografische Literatur geltende – Rezeptionsvoraussetzung.

In manchen Bereichen der Literatur hat das bereits zur Monopolisierung geführt. Da ist etwa das Beispiel einer Frau aus Afrika mit einer grauenhaften Kindheit, die Opfer von Genitalverstümmelung wurde. Diese Frau hat ein Buch geschrieben. Wie sieht das nun aus? In Wahrheit hat diese Frau einen gutbezahlten Vertrag mit einer Agentur abgeschlossen. Sie spricht nun ihre Erinnerungen in ein Aufnahmegerät. Diese Aufnahmen gehen zu einer Ghostwriterin, die weder das Land, aus dem diese Frau stammt, je besucht hat, noch etwas über die Gesellschaft dort weiß. Sie zimmert aber nun für einen Hungerlohn aus den Aufnahmen einen spannenden Text mit lebendigen Szenen. Das so entstandene Buch wird uns – ohne dass es die auf dem Buch als Autorin angeführte Person jemals gelesen hat – als der authentische Bericht einer Betroffenen verkauft. Wodurch mit einem Schlag alle Nicht-Betroffenen delegitimiert werden, über dieses Thema zu schreiben. Hier wird nicht nur die Produktion monopolisiert, hier wird auch zensiert. Und der Konsument solcher Bücher ist Opfer einer vorsätzlichen Täuschung, wenn nicht des Betrugs.

Ich kann mich noch gut erinnern, mit welcher Aufregung mein Großvater Filme angeschaut hat, die schon im Vorspann anpriesen, Nach einer wahren Begebenheit gemacht worden zu sein. Das ist wirklich passiert, ist dann der nächste Schritt zu einer Rezeptionshaltung, in der das Erzählte sekundär ist; das Unverständnis für das Medium Film jedoch primär.

Mit der Kommerzialisierung des Fernsehens erfasste die Entliterarisierung auch das Fernsehen. Mit den Kabelsendern kamen Reality-TV und Reality-Shows. Sie unterboten nicht nur die niedrigsten Anforderungen an das Erzeugen von Fiktion im Fernsehen, sondern ermöglichten jene Produktionssteigerung, die nötig war, um die vielen neuen Fernsehkanäle, die damit begannen, rund um die Uhr zu senden, mit genug Material versorgen zu können. Freilich ist auch die dort gezeigte Reality nichts als Fiktion. Als man nach dem Zweiten Weltkrieg die Filme, die alliierte Soldaten bei der Befreiung von Konzentrationslagern gemacht hatten, sammelte und daraus einen Informationsfilm für die österreichische und deutsche Bevölkerung machen wollte, lud man unter anderem Alfred Hitchcock ein. Man fragte ihn, wie es möglich sei, aus diesem Material einen Film zu machen, der Österreichern und Deutschen die Gräuel in den KZ vorführe und sie überzeuge, dass das Gezeigte wirklich geschehen ist. Hitchcocks Antwort war, das sei gar nicht möglich.

Freilich ist also auch die Reality nichts als Fiktion; allerdings unter völliger Aufgabe der kritischen Möglichkeiten des Erzählens. Und hier komme ich zum Ausgangspunkt zurück, dass Pandemie und Demokratieabbau die Lage klarer gemacht haben. Kritische und zeitgemäße Literatur wird sich der Vernutzung der kapitalistischen Logik widersetzen. Die immer noch in Ablenkung und Propaganda geteilte Taktik der rechten Regierungen macht in einem ersten Schritt aus den Medien mit den größten Reichweiten Regierungsmedien. Mit diesem Schritt ist der kritische Journalismus weitgehend marginalisiert. Die Regierungsmedien berichten nicht mehr über Skandale in der Regierung (das ist auch eine Variante von Zensur), sondern verbreiten die erwünschten Meldungen. Was an Kritischem überbleibt ist jene nun schon jahrezehntelange Befundung, die wir aus Ökologiedebatten kennen. Immer noch wird festgestellt, was schon Ende der 70er-Jahre festgestellt wurde, und hinter dem Applaus, den es für manche dieser Befundungen gibt, steckt das Kaltstellen einer Autorin oder eines Autors. Sie oder er kann nun auf hunderte Diskussionen zum Thema geschickt werden, um ihre oder seine Erkenntnisse zu verkünden. Erkenntnisse, die man schon vor vierzig Jahren gewonnen hatte, ohne dass sich daraus politische Konsequenzen ergeben hätten.

Ähnlich angenehm für Regierungen, die die Demokratie schleichend in eine Oligarchie umwandeln, ist die Literatur der Verniedlichung und des Privaten. Obwohl eine große Mode der Nullerjahre, wird immer noch so geschrieben, als gäbe es die Welt, die uns umgibt, nicht. Ihre Autorinnen und Autoren sind beliebt, je harmloser, desto beliebter. In einer Art Neo-Biedermeier erklären sie den Privatraum und das selbst Erlebte zur einzigen Realität. Ihre vage Konsumkritik entzieht sich strukturellen Fragen. Hier wird die Abstraktion des Post-Kolonialismus perfekt abgebildet: Was wissen wir schon über das kleine Kind, das in Bangladesh die Pullover stricken muss, die wir anziehen? Nichts. Wir müssen doch morgen in der Kindergruppe den Abwasch machen und vor Monatsende die Rabattmarken einlösen. Darüberhinaus wissen wir: Nichts.

Aus diesem Nichts wird eine dürftige Fiktion gezimmert. Implizit oder in manchen Fällen sogar explizit, erklären die Autorinnen und Autoren der Niedlichkeitsliteratur, Politik sei lächerlich. Vielleicht meinen sie Parteipolitik. Aber das sagen sie nicht genau. Sie gelten den meisten Kritikern mit dieser Aussage per se als kritisch oder gar subversiv. In Wahrheit schütten sie damit das Kind mit dem Bade aus: Sie erklären nicht nur ihr eigenes Werk für lächerlich, sondern verkünden programmatisch die Unterwerfung der Literatur unter die Medienlogik der Oligarchen.

Der Show-Charakter des Unpolitischen und die Ernennung des Unpolitischen zur Subversion, schlägt sich dann in den Formaten diverser Veranstalter nieder, bei denen es nun (fünfundzwanzig Jahre zu spät) zur Mode geworden ist, ebenfalls Shows zu veranstalten. Im Stil einer TV-Talkshow wird dann über Literatur geredet. Das heißt: Eigentlich wird dort nicht geredet, sondern gequatscht. Es geht darum, Pointen zu landen und besonders gelassen und ablehnend auf alles zu reagieren, was mit Literatur im Entferntesten zu tun haben könnte.

Die Entliterarisierung der Literatur in diesen Formaten ist auffällig. Meist wird dort gelobt, dass ein Autor sein Werk vorstellt, ohne nur einen Satz daraus zu lesen. Das kommt den Kritikern entgegen, die dort über das Werk sprechen, ohne es gelesen zu haben. Meist wird dann verkündet, die Wasserglaslesung sei out. Nun gut, da bin ich gerne dabei. Man müsste sich aber ein wenig Mühe geben, um Formate zu entwickeln, die besser sind als die herkömmliche Lesung. Doch der unendliche Quatsch der Shows gibt sich überhaupt keine Mühe. Er macht aus der Not eine Tugend und entbindet alle Anwesenden ihrer Funktion, solange sie eben quatschen, um die Zeit zu vertreiben, um die gegenwärtige Zeit aus den Räumen des Quatschs zu verscheuchen.

Schließlich, als bedrohliche Zukunftsaussicht, komme ich nochmals zu jenen Zensurabsichten zurück, die uns heute, wie bereits gesagt, aus unerwarteter politischer Richtung entgegenschlagen. Das ist die Welt der Triggerwarnungen, der nachträglichen Änderung historischer Literatur und letztendlich der Verbote. Es sind Zensurunterfangen, die sich in das Kleidchen des Beschützers gehüllt haben. Nur zu unserem Besten wollen sie eine Zensur errichten, deren politische Legitimation höchst fragwürdig ist – von wissenschaftlicher oder ästhetischer Legitimierung spricht ohnehin kein Mensch.

Und so kommt es, dass die Äußerungen von Staatschefs, die Lügen, Verhetzung, Verunglimpfung und Beleidigung anderer Menschen enthalten, zum Schutz der Leserinnen und Leser in Büchern nicht mehr vorkommen dürfen und von der Wissenschaft nicht mehr analysiert werden sollen, um die Wissenschaftler davor zu schützen. Ein System, dessen höchste Macht sich also moralisch disqualifiziert, hält sich für moralisch qualifiziert, die Analyse ihrer eigenen Worte und Taten zu verbieten. Hier sind wir bei totalitärer Politik angekommen.

Es tut mir weh zu sehen, wie Autorinnen und Autoren bewusst oder unbewusst der Entliterarisierung der Literatur das Wort reden. Andere schweigen überhaupt, teils aus vermeintlicher Taktik, teils aus Angst. Den Gegenwind bekommen jene zu spüren, die ihre Meinung öffentlich ausdrücken. Alarmismus, Übertreibung und Kulturpessimismus wird ihnen vorgeworfen. Natürlich, das ist ja auch eine geschichtlich bekannte Taktik der Entdemokratisierung, dass sie die Warnenden lächerlich macht und schon die Tatsache, dass sie ihre Warnung aussprechen dürfen, als Beweis dafür angeben, dass sie übertrieben ist.

Ich freue mich dennoch auf die Literatur der kommenden Jahrzehnte, weil ihr eine Aufgabe zukommt, die niemand anderer in unserer Gesellschaft mehr erfüllt. Die Literatur allein hat heute die Möglichkeit, nein die Pflicht, unsere Gegenwart wahrhaftig und in allen Graustufen abzubilden. Sie hat auch (noch) die Möglichkeit, gegen den Zeitgeist von Zensur und kapitalistischer Vernutzung anzukämpfen, wo der Journalismus bereits aufgegeben und seine moralische Verantwortung für Geld hergegeben hat. Nicht alle werden die Entliterarisierung der Literatur zulassen. Denn es gibt viele, die sich heute aus Ekel vor den gegenwärtigen Verhältnissen zurückziehen. Das Lesen und Schreiben bleibt ihnen aber. Und wir haben in der Geschichte gesehen, wie die Literatur trotz der politischen Verhältnisse, trotz Diktatur, trotz Krieg, überlebt hat. Sie wird auch jetzt überleben, durch alle, die genug Mut haben, sich ihrer Aufgabe zu stellen, und genug Widerstandsgeist, um die Schmähungen zu ertragen, die ihr die zur Mehrheit gewordenen Vertreter der Entdemokratisierung nicht ersparen. Lassen wir uns die Literatur nicht nehmen!

(Daniel Wisser, 5.11.2021)