Doktor Adler und Frau Austria
27. Oktober 2018
Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Tod Viktor Adlers am 11. November 1918 fielen auf denselben Tag. Zum 100. Todestag des Wiener Arztes und Politikers und über seine frühe publizistische Tätigkeit in „Die Gleichheit“.
Mitten in den Wehen und Stürmen einer neuen Zeit, mitten in der unermesslichen Arbeit, die der Wiederaufbau der zerstörten menschlichen Gesellschaft von uns allen heischt, ist unser geliebter Doktor von uns gegangen.
Mit diesem Satz beginnt der Nekrolog auf Viktor Adler in der Arbeiter-Zeitung vom 12. November 1918. Dass das Ende des Ersten Weltkriegs und der Tod Viktor Adlers auf denselben Tag fallen, mutet seltsam an. Einen Tag später erklärt die Provisorische Nationalversammlung Deutsch-Österreich das Land zur Demokratischen Republik. Diese hatte eigentlich schon knapp zwei Wochen davor mit der Ernennung der Staatsregierung Renner I begonnen, in der Viktor Adler, Staatssekretär des Äußeren, also erster Außenminister Österreichs, war.
Es ist viel zu sagen und zu schreiben über diesen Mann, viel gesagt und geschrieben worden. Seine einende Kraft in der Arbeiterbewegung und seine Korrespondenz mit Gleichgesinnten in allen Ländern sind es wert, minutiös erforscht zu werden. Mit seinem Eintreten für die Rechte der Arbeitenden, das allgemeine Wahlrecht und die Demokratie setzte er ein Leben lang Freiheit und Gesundheit aufs Spiel. Heute scheint es besonders wichtig, die Aspekte seines gesellschaftlichen Engagements und seiner publizistischen Tätigkeit hervorzuheben. Die katastrophalen Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten und leben müssen, sind nicht verschwunden.
Wir sprechen vom Wohlstand, wenn das Elend in Afrika ist und nicht vor unserer Haustür am Wienerberg. Doch auch in unserem Land haben wir mit prekären Verhältnissen zu kämpfen: Lohnbedingungen, die nicht gesetzeskonform sind, sind auch in der heutigen Zeit üblich, sie werden nur mit anderen Methoden umgangen, mit Formen der Selbstständigkeit, die ungesetzliche Entgeltung kaschieren. Neue Formen der digitalen Vermittlung sind drauf und dran, ganze Wirtschaftszweige auszuschalten. Sie stiften zum Umgehen gesetzlicher Abgaben an und hinterlassen die Arbeitenden mit einer Entlohnung, mit der sie kein Auslangen finden. Die Frage ist: Wer kämpft dagegen? Wer beschwört den Geist der Solidarität? Wer betreibt mit konsequenter publizistischer Tätigkeit Aufdeckung und Aufklärung? Wer durchbricht die Gleichgültigkeit, die die Menschen, die im Wohlstand leben, dem Elend anderer gegenüber entwickelt haben?
Viktor Adler, unser geliebter Doktor, war kein Publizist. Er war Arzt. Seine Praxis befand sich in der Berggasse 19 im neunten Wiener Gemeindebezirk. Dort hatte Viktor Adlers Vater Salomon Markus Adler ein altes Haus gekauft, in das das neuvermählte Ehepaar Emma und Viktor Adler einzog und auch die Ordination einrichtete. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1886 beschloss Adler allerdings, dieses Haus zu verkaufen, um mit dem Erlös eine Zeitung zu finanzieren, die den Namen Die Gleichheit erhielt und, wie Adler es in seinem Leitartikel ausdrückte, eine in Wien schon lange entbehrte Waffe der Arbeiterschaft im Kampfe um ihr gutes Recht sein sollte.
Das Haus in der Berggasse 19 wurde bald abgerissen und durch ein vom Architekten Hermann Stierlin 1889 fertiggestelltes Gründerzeithaus ersetzt ― das war im Bauboom der damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches. In das an derselben Stelle errichtete neue Gebäude sollte bald ein anderer berühmter Wiener Arzt einziehen, dessen Ordination diese Adresse berühmt gemacht hat: Sigmund Freud.
Viktor Adler war Arzt, kein Publizist. Aus diesem Grund wurde Adlers Zeitungsgründung auch von wohlwollenden Genossen belächelt. Zu wenig Erfahrung hatte Adler als Journalist, zu wenig Geschick in materiellen Angelegenheiten ― und es hatte auch zu viele Vorläufer der Gleichheit gegeben, die nach dem Erscheinen weniger Nummern wieder verschwunden waren. Dazu kam, dass damals das sogenannte Sozialistengesetz galt, das behördliche Konfiskationen leicht und wahrscheinlich machte. Dennoch erschien Die Gleichheit von 1886 bis 1889, und Adler nutzte sie, um wirkungsvoll auf das Elend der Arbeitenden hinzuweisen.
Der Bauboom der Gründerzeit brachte es mit sich, dass die Ziegelproduktion in dieser Zeit enorm war und den Aktionären der Fabriken hohe Dividenden bescherte. Die billige Produktion war allerdings nur möglich, weil im Zuge einer großen Migrationswelle aus dem Norden zugewanderte Arbeiter in den Ziegelwerken am Wienerberg als Sklaven arbeiteten. 1888 schlich Viktor Adler sich in die Ziegelwerke der Wienerberger-Gesellschaft ein, um sich selbst ein Bild von den dortigen Arbeitsbedingungen zu machen. Was er sah und miterlebte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nicht nur, dass die Arbeiter dort für einen Hungerlohn schufteten, sie bekamen diesen nicht in Geld ausgezahlt, sondern über ein sogenanntes Trucksystem in Blechmarken, die nur in dort ansässigen Kantinen einzulösen waren. Dieses System war damals bereits gesetzlich verboten. Lebensmittel und Kleidung wurden überteuert verkauft. Wer anderswo kaufte oder statt Blechmarken Bargeld verlangte, wurde sofort entlassen. Die Ziegelarbeiter gingen zusätzlich betteln oder machten sich auf lange Fußwege zu wohltätigen Ausspeisungen. Eindringlich schildert Adler auch die erbärmliche Wohnsituation in den Baracken und aufgelassenen Ziegelöfen, in denen sich bis zu 70 Menschen unter verheerenden hygienischen Bedingungen zusammendrängten.
Der minutiöse Bericht des Armenarztes Adler rüttelte die Gesellschaft auf, führte das Unrecht deutlich vor Augen, auch wenn die unmittelbaren Folgen seiner Berichterstattung zwar einerseits eine Inspektion des Gewerbeamts und ein Verbot des Trucksystems, andererseits aber auch neue Repressalien gegen Die Gleichheit waren. Auf dem Elend der Ziegelarbeiter wurde das neue Wien, das Wien der Gründerzeit erbaut. Die bürgerliche und adelige Gesellschaft Wiens stand diesem Elend weitgehend ohne Mitleid, ohne Empathie gegenüber. Adler musste erkennen, dass nur eine solidarische Bewegung in Zusammenhang mit strukturellem politischem Wandel die Grundlagen solcher Missstände entfernen konnte.
Wir befinden uns heute in einer nicht unähnlichen Situation. Zunächst bedeutete Kolonialismus eine große räumliche Distanz zwischen den Ausgebeuteten und den Gesellschaften, die von dieser Ausbeutung profitierten. Da die Kolonialmächte aber an ihren Universitäten Menschlichkeit und Gleichheit lehrten, waren die politischen Machtstrukturen in den Kolonien für die eigenen moralischen Maßstäbe der Kolonialherren nicht tragbar. Reichlich spät und zögerlich wurden die Kolonien also „aufgegeben“ und die betroffenen Länder „in die Freiheit entlassen“ ― wobei diese Ausdrücke in mehreren Anführungszeichen stehen müssten. Denn obwohl das Syntagma, die Machtstruktur, durch eine andere ersetzt wurde, blieb das Paradigma der Machtausübung, der Ausbeutung einer Mehrheit der Bevölkerung zugunsten einer herrschenden Minderheit, in den meisten Ländern bestehen. Und dies zum Vorteil der westlichen Industrieländer, der früheren Kolonialherren, die de facto durch installierte Oligarchien ihre wirtschaftlichen Interessen in den betroffenen Ländern wahrten.
Keines der Länder, die an der Spitze der österreichischen Rohöllieferanten stehen, ist ein demokratischer Staat. Und bei anderen westlichen Industriestaaten, die Rohöl importieren, ist es ebenso. Gleichzeitig werden diesen Ländern Waffen geliefert, mit denen sie zum Teil selbst Kriege führen, zum Teil paramilitärische Organisationen unterstützen, die für Bürgerkriege in vielen Ländern verantwortlich sind.
Dem Elend der Ziegelarbeiter zur Zeit Viktor Adlers entspricht heute das Elend der Bevölkerung in den genannten Ländern. Auf deren Elend beruht unser Wohlstand. Mit einem Großteil unseres Energieverbrauchs vermehren wir dieses Elend und lösen auch jene Migrationsbewegungen aus, die heute für die reaktionären Kräfte zum einzigen Schlagwort ihrer politischen Propaganda geworden sind. Mit jedem Tag des Unrechts in diesen Ländern verursachen wir selbst mehr Migration. Um uns das Elend dieser Menschen vom Hals zu halten, reicht es inzwischen schon aus, dass sie (z. B. in Libyen) in Lagern gehalten, dort getötet, als Sklaven verkauft oder Opfer von Massenvergewaltigungen und Gewalt werden.
Noch zynischer ist es, nun das Schlepperwesen zur Ursache des Flüchtlings- und Migrantenstroms zu erklären. Schlepper wird es immer geben, wo Menschen vertrieben werden oder aufgrund verheerender Bedingungen nicht mehr leben wollen. Schlepper entsprechen jenen Kantinenbetreibern zur Zeit Viktor Adlers, die vom Trucksystem und somit der Ausbeutung der Ziegelarbeiter profitierten. Schlepper sind Personen, die am Elend und der Unterdrückung, welche die vom Westen gestützten autoritären Regime verursachen, mitverdienen.
Wenn den Opfern dieses Elends dann von einer herausragenden humanitären Organisation wie Médecins Sans Frontières das Leben gerettet wird und einem Regierungschef dazu nichts anderes einfällt, als mit einer dreisten Lüge die Lebensretter der Zusammenarbeit mit Kriminellen zu bezichtigen, dann wissen wir, dass es Zeit ist. Zeit, wie einst Viktor Adler mit und für die Ärmsten zu kämpfen, im eigenen Land und auf der ganzen Welt, und zynischen, verlogenen Machthabern, die sich selbst nicht als Diener der Menschen, sondern die Menschen als ihre Untertanen sehen, die Stirn zu bieten.
Die Aufgabe eines Regierungschefs wäre es, anstatt Lügen zu verbreiten, den Handel mit Unrechtsstaaten zu beenden, und stattdessen den Menschen in diesen Staaten bei der Entwicklung demokratischer Verhältnisse zur Seite zu stehen und humanitäre Hilfe zu leisten. Hilfe vor Ort wird zwar seit langem als Floskel in der Politik bemüht. Betrachtet man die aktuelle Statistik der österreichischen Entwicklungshilfe und die jährlich sinkenden Ausgaben dafür, wird man allerdings feststellen, dass es mit der Umsetzung in die Tat zurzeit nicht weit her ist. Hilfe muss in erster Linie das Ziel haben, die Betroffenen zum eigenen Handeln zu befähigen. Auch das erkannte Viktor Adler, als er in seinem Bericht über die Ziegelarbeiter vom Wienerberg schrieb:
Dieses Verbrechen wird begangen vor den Toren Wiens, unter den Augen der Gewerbebehörden und der Gewerbeinspektoren. Wenn das Inspektorat zu schwach ist, um gegen die mächtige Gesellschaft aufzukommen, werden wir seine Bemühungen unterstützen. Wir werden nicht ruhen, bis diese Schandwirtschaft aufgehört hat. Aber Behörden und Öffentlichkeit können nicht alles machen. Die Hauptsache ist die Tätigkeit der Arbeiter selbst. Sie müssen sich endlich aufraffen und ruhig, aber energisch erklären, dass sie sich diese Beraubung nicht mehr gefallen lassen werden.
1889 startete Viktor Adler in Die Gleichheit eine weitere Kampagne, die schließlich auch das Ende dieser Zeitung besiegeln sollte. Bereits seit längerem, insbesondere aber durch eine 1885 erschienene Schrift des christlich-sozialen Politikers Rudolf Eichhorn, waren die unsozialen Arbeitsbedingungen der Kutscher der Pferdetramway bekannt geworden. Strafarbeit und unmenschliche Arbeitszeiten von bis zu 21 Stunden am Tag waren die Regel. Als die Maßnahmen noch verschärft wurden, kam es 1889 zum Streik der Tramwaykutscher. Viktor Adler schreibt darüber in einem Briefwechsel mit Friedrich Engels:
Die Tramway-Gesellschaft hat bekanntlich zwei Gattungen von Bediensteten. Die einen haben eine Arbeitszeit von 16 bis 21 Stunden und ganz ungenügende Nahrung; die anderen arbeiten täglich vier Stunden und werden reichlich genährt. Die Ersten sind die menschlichen Bediensteten, die Anderen sind die Pferde. Denn Menschenfleisch ist spottbillig in unserer Gesellschaft, Pferde aber kosten schweres Geld.
Der Streik verlief leider nicht gewaltlos, weshalb die Behörde diesmal streng vorging. Zunächst wurde die betreffende Ausgabe der Gleichheit konfisziert, wenig später aber die Zeitung überhaupt verboten. Wegen seiner Berichterstattung über den Tramwaykutscherstreik wurde Viktor Adler zu vier Monaten Arrest verurteilt. Das hatte auch zur Folge, dass er am ersten Maiaufmarsch in Wien im Jahr 1890 nicht teilnehmen konnte. Und so musste er an die Arbeiter-Zeitung, die nun die Nachfolge der Gleichheit begonnen hatte, folgende Zeilen aus dem Arrest schreiben:
Der Zweck des Festes, welches die Arbeiter Österreichs beschlossen haben, am 1. Mai zu begehen, ist heute schon erreicht! Der letzte Proletarier in der letzten Hütte des weltvergessensten Tales, der hoffnungslos dahinvegetierende Industriesklave in den Städten, sie alle haben das Haupt in freudigem Staunen erhoben, horchen auf und in das tödliche Einerlei ihrer Überarbeit, ihres Elendes tönt der Ruf: Der gesetzliche Achtstundentag!
Wie lange es gebraucht hat, um diese Vision der Menschlichkeit umzusetzen, welche Anstrengungen und Opfer dafür gebracht wurden, sollte uns nicht nur am Todestag Viktor Adlers, sondern an jedem Tag daran erinnern, mit unseren demokratisch erkämpften Rechten nicht so sorglos umzugehen, wie es derzeit der Fall ist. Heute braucht es wieder einen Viktor Adler mit vielen Tausenden Mitstreitern, um unsere Welt ein wenig menschlicher zu machen, um unsere Diskussionen wieder auf wesentliche Punkte zu lenken, anstatt sich damit zu beschäftigen, dass Sozialdemokraten Armbanduhren tragen und Rechte und Neonazis als pragmatisierte Beamte in unseren Ministerien sitzen.
Die Gleichheit wurde der letzte Vorläufer der Arbeiter-Zeitung, die zum ersten Mal am 12. Juli 1889 erschien: zuerst zweiwöchentlich, dann wöchentlich, dann zweimal die Woche und ab dem 1. Jänner 1895 als Tageszeitung. Die Umwandlung in eine Tageszeitung wurde wie eine Neugründung gefeiert. Auf der ersten Seite fand sich folgendes Gedicht:
Arbeiter-Zeitung – erste Nummer!
Ist denn der jüngste Tag schon da?
Aus ihren Augen reibt den Schlummer,
Emporgescheucht, Frau Austria.
Die alte Dame kann’s nicht fassen:
Dürft ohne Herkunft, ohne Stand,
Ihr Bettelvolk euch blicken lassen
Mit eurer Zeitung in der Hand?
Der Einsatz für die Schwächsten und Ärmsten der Gesellschaft ist und bleibt das Vorbild Viktor Adlers. Möge sein Vorbild die momentane Situation unserer Gesellschaft überwinden helfen, in der Neid und Missgunst zu Leitmotiven geworden sind, in der eigene Nachteile hingenommen werden, solange die Nachteile anderer, noch schwächerer Mitmenschen als Vorteil empfunden werden. Wir brauchen eine Politik, die die Schwächsten dazu ermächtigt, sich zu erheben, und nicht noch schwächere Klassen schafft.
Möge das Vorbild Viktor Adlers viele Nachahmer finden und Frau Austria wieder den Schlummer aus den Augen reiben. Es wäre an der Zeit!
https://www.derstandard.at/story/2000090128883/doktor-adler-und-frau-austria