Freiheit für die Liberalen
24. April 2021
Dass in Österreich mit den NEOS mit großer Verspätung eine liberale Partei Fuß fassen konnte, grenzt an ein Wunder. Obwohl man nicht immer ganz schlau wird aus dieser Partei, die eigentlich eine Abspaltung der ÖVP ist. Es muss aber festgehalten werden, dass die NEOS parteiinternen Pluralismus leben, wie er bei den Grünen leider aufgegeben wurde. Und in Sachen Korruptionsbekämpfung, Aufdeckung und demokratische Kontrolle haben sich die NEOS in den letzten Jahren wirklich verdient gemacht.
Bleibt halt die Frage, ob die demokratische Kontrolle und die Menschenrechtspolitik einer Stephanie Krisper und die stramm kapitalistischen Thesen eines Gerald Loacker in derselben Partei Platz haben. Also, das ist offensichtlich möglich, denn sie sind ja in derselben Partei. Aber es stellt sich schon die Frage, ob die neoliberale Gesinnung des einen Flügels nicht just zu jenen demokratiefeindlichen Auswüchsen führt, die wir jetzt bei den Türkisen en masse beobachten und gegen die der andere Flügel der NEOS durch sein Engagement im Ibiza-Ausschuss vehement auftritt. So oder so: Österreich braucht die NEOS. Im Kampf um die Erhaltung von Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit brauchen wir auch die wirklichen Liberalen und die wirklichen Konservativen. In diesem Sinne kann Zulauf zu den NEOS nur etwas Gutes bedeuten.
Die Etablierung einer liberalen Partei in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Geschichte von Fehlstarts. Der 1949 gegründete Verband der Unabhängigen und die 1955 gegründete FPÖ konnten und wollten keine überzeugende Abgrenzung zu rechtsextremer Gesinnung vornehmen. Die beiden ersten Parteivorsitzenden der FPÖ Alois Reinthaller und Friedrich Peter waren im Nationalsozialismus Angehörige der SS. Auch unter dem Vorsitz von Alexander Götz und später Norbert Steger, dessen Zeit die liberalste Periode der FPÖ markiert, blieben braune Spuren sichtbar – und das nicht nur bei Politikern der Kriegsgeneration: Jörg Haider machte schon vor seiner Übernahme der Partei deutlich, dass er an einer Abgrenzung vom Nationalsozialismus nicht interessiert war. Als 1985 ein Sturm der Kritik losbrach, weil der freiheitliche Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager den aus der Haft entlassenen Kriegsverbrecher und früheren SS-Major Walter Reder mit einem Handschlag willkommen hieß, begrüßte Haider das als vorbildliches Verhalten.
Und seit ebendieser Jörg Haider 1986 zum Parteiobmann gewählt wurde, sehen wir auch unter seinen Nachfolgern keine ernst zu nehmenden Schritte der FPÖ, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und eine liberale Partei zu werden – ganz im Gegenteil: Wie die ÖVP nicht christlich und nicht sozial ist, so sind auch die Freiheitlichen nicht freiheitlich.
Der bemerkenswerteste Versuch einer liberalen Abspaltung war wohl die Ära des Liberalen Forums, das entstand, als sich unter der Führung von Heide Schmidt 1993 fünf FPÖ-Mandatare zu einer eigenen Fraktion zusammenschlossen. Doch wie glaubwürdig konnte Schmidt sein, war sie doch in den sieben Jahren davor in der von Haider geführten FPÖ unter anderem Abgeordnete, Nationalratspräsidentin, Obmannstellvertreterin und Bundespräsidentschaftskandidatin gewesen? Selbst wenn man Schmidt ihre liberale Gesinnung abnahm, war ihre Zeit in der Haider-FPÖ einfach zu lange und für ihren Bekanntheitsgrad zu profitabel gewesen.
Dazu kam ein inhaltliches Problem: Die Schere zwischen der demokratischen und menschenrechtlichen Gesinnung und der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Partei machte eine glaubhafte politische Ausrichtung schwer. Erreichte man bei den Nationalratswahlen 1994 und 1995 etwas über 5 % der Stimmen, so konnte die Vier-Prozent-Hürde schon 1999 nicht mehr überwunden werden.
Die 2012 gegründeten NEOS, die später mit dem Liberalen Forum fusionierten, haben nun entscheidende Vorteile gegenüber ihrer Vorgängerpartei: Sie sind die einzige Partei eines demokratischen Konservativismus, die in Österreich übrigbleibt. Sie sind (auch in den Ländern) für die Koalition mit der SPÖ offen. Und sie betreiben Demokratiepolitik mit Ernsthaftigkeit, Anstand und Glaubwürdigkeit. Natürlich gibt es da auch andere Koalitionsoptionen: Als die NEOS vor Kurzem im Nationalrat mit der ÖVP und den Grünen gegen die Erhöhung des Arbeitslosengeldes stimmten, deutete sich diese Möglichkeit an. Doch es ist fraglich, ob wirtschaftspolitische Übereinstimmungen ausreichen, um die NEOS und die ÖVP zu verbinden.
Die Krise der Demokratie in Österreich hat die Wirtschaftspolitik, die jahrzehntelang im Zentrum der politischen Debatte stand, überrollt. Von Bruno Kreiskys Mallorca-Paket bis ins Jahr 2015 war die Finanzpolitik mit ihren Sparpaketen und dem Diktum eines ausgeglichen Budgets das Zentrum politischer Programmatik. Doch die ÖVP konnte über all diese Jahrzehnte hier nicht glaubhaft punkten. Und heute ist die Kompetenz der sogenannten Wirtschaftspartei, die nicht einmal in der Lage ist, in ihren Reihen eine Person zu finden, die die Funktion des Finanzministers wenigstens mit genügender Leistung ausüben kann, öffentlich blamiert. Der Präsident des Wirtschaftsbundes, einst mächtiger Mann der ÖVP, ist zu einer Lachnummer geworden.
Das ist eine große Chance für die NEOS. Dass die ÖVP für Klein- und Mittelbetriebe keinen Finger mehr rührt, wird ihnen ebenfalls entgegenkommen. Auch die bejahende Einstellung zur Europäischen Union ist bei den NEOS glaubhaft, während die ÖVP sich innerhalb der Gemeinschaft weit nach rechts außen bewegt hat. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn die Pro-EU-Haltung auch konstruktive Kritik im Sinne einer dringend nötigen Reform der demokratischen Strukturen der EU und der Bewegung hin zu einer Sozial- und Ökologieunion auslösen würde. Punkte, in denen auch die SPÖ und die Grünen dringenden Handlungsbedarf haben.
Ich bin kein Anhänger der NEOS und kann es aufgrund ihres Wirtschaftsprogramms nicht sein und nicht werden. Ich gebe ihnen aber eine Chance. Die Chance, dass sie in Koalitionen mit anderen Parteien demokratischer Gesinnung die großen Probleme dieses Landes wenigstens einmal ehrlich benennen und ihre Bewältigung angehen.
Es ist klar: Alle sind müde. Müde von den zehrenden Monaten der Pandemie. Doch gerade das heißt, dass wir die Demokratie dieser Müdigkeit nicht opfern dürfen. Eine liberale oder konservative Partei, die an der Demokratie festhält, werden wir bei der Bewältigung der Krise brauchen. Und wenn es je eine liberale Partei in Österreich gab, dann sind es die NEOS. Den anderen muss die Freiheit, die sie in ihrem Namen tragen, erst gebracht werden.
https://zackzack.at/2021/04/24/not-a-bot-freiheit-fuer-die-liberalen