Haltung, Schmäh und Toleranz (Heimo Mürzl)

Heimo Mürzl

Haltung, Schmäh und Toleranz

Mit unbestechlichem Engagement wider das Schweigen aus Taktik und Kalkül

„Man kann einfach vieles nicht unkommentiert stehen lassen. Schlimm finde ich das Schweigen aus Taktik und Kalkül.“ (Daniel Wisser)

Daniel Wisser, 1971 in Klagenfurt geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend im Burgenland, weil seine Eltern ins Burgenland zogen als er vier Monate alt war. Erwachsen und voll Tatendrang zog er danach nach Wien, wo er heute noch lebt. Als Autor, literarischer Performer und Musiker (als Mitglied des Ersten Wiener Heimorgelorchesters) schaffte er es zu einem Geheimtipp für eine an engagierter, experimenteller und zugleich vergnüglicher Kunst interessierten Öffentlichkeit.

Einer breiten Öffentlichkeit wurde er dagegen vor allem als Kandidat der Millionenshow im ORF bekannt, in der er 300.000 Euro gewann. So muss Daniel Wisser mit den paradoxen Tatsachen leben, in einer Quizshow mehr Bekanntheit erlangt und mehr Geld verdient zu haben als durch jahrzehntelange Arbeit als Autor und Musiker.

Politisch sozialisiert – sein Vater war ein Nachrichten-Junkie und leidenschaftlicher Zeitungsleser und in der Familie Wisser wurde sehr viel diskutiert – wurde er zu Hause, das eigene Gewissen, der eigene Kompass für Gut und Böse, für richtig oder falsch wurden sehr früh zur obersten Instanz. Auch und speziell für sein literarisches Schaffen. Wisser verstand sich nie als zurückgezogenen Kunstschaffenden, der sich öffentlicher Stellungnahmen enthielt, sondern stets auch als ein politisch wacher Mensch, der nicht müde wurde, sich zu positionieren und einzumischen. Und seine Wortmeldungen fanden Widerhall, zwischen entschiedener Zustimmung und erbitterter Ablehnung. Diese Form des unbestechlichen Engagements macht ihn angreifbar und sichert ihm oft einen Platz zwischen allen Stühlen. Wisser hält Widerspruch für ein wichtiges Gut einer demokratischen Kultur und ist überzeugt davon, dass soziale Ungleichheit behebbar und ein großes Maß an Selbstbestimmung erreichbar ist. Er schreibt auch gegen den Verfall der öffentlichen Meinung und den Verfall der öffentlichen Kontrolle an. Das ist engagierte und über den Tellerrand des Rein-Literarischen blickende Literatur, die die Verteidigung der Demokratie, die Sicherung der Meinungsfreiheit und die durchdachte Kapitalismus- und Systemkritik zu den Hauptaufgaben publizistischer Tätigkeit zählt.

2017 begann er damit, Artikel zu aktuellen politischen Entwicklungen zu verfassen und war eine Zeit lang mit einer wöchentlichen Kolumne (Not a Bot) auf zackzack.at vertreten. 2022 wurden diese politischen Kommentare gesammelt und um eine Handvoll Zeitungsartikel ergänzt unter dem Buchtitel Tausend kleine Traurigkeiten bei Bahoe Books veröffentlicht. Hellwach, kritisch, klug, menschenfreundlich, uneigennützig und durchaus parteiisch, gegen das System und den Zeitgeist und für die gute Sache, erhebt Wisser seine Stimme und bezieht aus Überzeugung (gesellschafts)politisch Stellung. Auf knapp 240 Seiten geht es um Abhängigkeiten, Neoliberalismus, Privatisierung, geringe Löhne, den Sozialstaat, türkise Politik, Flüchtlinge, Wohlstandsverwahrlosung und fehlenden (politischen) Anstand. Daniel Wisser macht manipulierte „Wahrheiten“ sichtbar und legt auf ebenso engagierte wie raffinierte Weise gesellschaftliche und politische Verwerfungen bloß. Vielen Entwicklungen der Gegenwart begegnet er mit großer Skepsis. Seine Kritik daran zeichnet eine große Vielfalt aus, was Themen und Darstellungsweisen betrifft.

„Um heute ein überlebensfähiger Autor zu sein, brauchst du eine Agentur. Ohne Agentur funktioniert es heute nicht mehr. Zudem brauchst du Ausdauer und Geduld. Aber das Wichtigste ist, dass man das macht, was man machen will.“ Seinem eigenen Motto blieb Daniel Wisser stets treu. Er machte das, was er machen wollte, ohne Rücksicht auf Marktinteressen und Erfolgsaussichten. Seine ersten literarischen Veröffentlichungen waren Werke, die kunstvoll mit Form und Sprache spielten, teils experimentell, dann wieder leichtfüßig-spielerisch und nicht selten Erwartungshaltungen nicht erfüllten. So überraschte er mit seinem ersten Buch Dopplergasse acht, indem der als Roman ausgewiesene Erstling formal ein Langgedicht in fünfundvierzig Strophen war.

Seine zweite Veröffentlichung Standby wiederum spielte mit der Sprache von Gebrauchsanweisungen und glich einem literarischen Versuch über die Passivkonstruktion. Mit diesem Text nahm Wisser auch am Ingeborg Bachmann-Wettbewerb teil.

Mit seinem episodenhaften, trotz seiner nur etwas mehr als 120 Seiten äußerst handlungs- und figurenstarken Kurzroman Löwen in der Einöde wandte sich Wisser erstmals ganz behutsam konventionelleren und leserfreundlicheren Erzählformen zu, ohne seine spielerische Virtuosität ganz abzulegen. Indem er auf eine lineare Erzählweise verzichtet, verwebt er in diesem Roman die zahllosen Zeitebenen auf stimmige Art und macht so kenntlich, wie subjektives und kollektives Erinnern ineinandergreifen.

Nach Sigmund Freud ist die „Melancholie die Folge eines unbekannten Verlusts“ und evoziert die Wirkungsmacht der Erinnerung. Die Erinnerung an das verlorene Paradies der Jugend und die Geschichte einer unerfüllten Liebe treibt auch den Anti-Helden Michael Braun im Roman Löwen in der Einöde um und lässt ihn von der Vergangenheit träumen und bringt seine Phantasie zum Wuchern. So kippen die Erinnerungssequenzen des Romanprotagonisten immer wieder ins Surreale. Wie beim Dialog, den er mit dem venezianischen Maler Tintoretto führt oder der täglichen Unterhaltung von Brauns Bekannter Evelyn, die seit 1981 jeden Tag mit Alfredo Rampi sprechen muss. Jener Rampi, der als Kind in einen Brunnenschacht gefallen und dort verstorben war.

Löwen in der Einöde ist ein Buch mit literarischen Fallstricken und Hintertüren, einem spannenden Kontrast zwischen lakonischem Erzählton und der Dramatik der geschilderten Ereignisse, verschmitzt und unterhaltsam, fordernd durch seine Rätselhaftigkeit und seinem Mix aus Zuversicht und Resignation. Der Antiheld Michael Braun hat sich in seiner glücklosen Beziehung eingerichtet wie in seinem biederen Beamtendasein im Meldeamt. Seine Partnerin Gudrun leidet darunter, dass Michael neben ihr her und sehr oft in der Vergangenheit lebt: „Sie hasst die meisten Geschichten, die er erzählt, weil er sie so oft erzählt. Von diesem Astronauten hat er noch nie gesprochen. Plötzlich, an diesem ersten Januar, kommt Michael Gudrun wie ein Fremder vor.“ Dieser Astronaut ist tatsächlich ein Kosmonaut und heißt Wladimir Wassiljewitsch Kowaljonok.

Daniel Wisser jongliert in seinem Kurzroman mit zahllosen Erinnerungen an die 1970er und 1980er-Jahre, die die biographische Klammer für den Romanprotagonisten Michael Braun bilden. Von der für Österreich erstaunlich erfolgreichen Fußball-WM 1978 über die Volksabstimmung über die Nicht-Inbetriebnahme des Atomkraftwerks Zwentendorf, die Entführung des Biermoguls Alfred Heineken, den Einsturz der Reichsbrücke oder den achtzehn Tage lang in einer Gefängniszelle vergessenen Andreas Mihavecz. Wissers Antiheld erinnert sich (zu) gut. Auch an seine unerfüllte Jugendliebe Alies, die aber alle nur Alice nennen. Erst als Alies Ehemann eines Tages tot zusammenbricht, scheint sich für Michael Braun alles zu ändern und die Gegenwart und Zukunft die Omnipräsenz der Vergangenheit zu verdrängen …

Robert Turin, die Hauptfigur, erhält die Diagnose „Multiple Sklerose“ als Endzwanziger und weiß, dass sich sein Zustand kontinuierlich verschlechtern wird. Sein Rollstuhl, ein Harndauerkatheter und übermäßiger Alkoholkonsum sind Alltag für den Romanprotagonisten, der seine Krankheit selbst Königin der Berge nennt. Als er seine Diagnose erhalten hatte, war er im Warteraum des Neurologen auf ein kleines Mädchen getroffen, das zu ihm sagte: „Ich weiß nicht, wer du bist, aber ich, ich bin die Königin der Berge.“

Daniel Wisser gelingt mit diesem Roman das Kunststück, wichtige und ernste Themen auf höchst vergnügliche Art anzusprechen und den Leser auf ebenso kurzweilige wie gewitzgesellte Weise zum Nachdenken zu verführen. Robert Turin zeichnet Wisser trotz dessen berührenden Schicksals nicht als Vorzeigecharakter und Sympathieträger, sondern als verhaltensauffälligen, sexuell übergriffigen Grantler und Trinker, der seine schlechte Laune gerne mit den Mitmenschen teilt: „Was soll ich schon denken? Ist der Urinbeutel voll? Wie spät ist es? Kommt ein neuer Schub? Kann ich die Zeitung lesen oder brauche ich dazu ein Mikroskop? Wer wischt mir heute den Arsch aus? Wie lange kann ich noch sprechen?“

Sein längst verstorbener Kater Dukakis ist Turin als imaginierter Begleiter und teuflischer Ratgeber Freund und Schutzpatron zugleich, dem Leser tritt er als Moderator und Alltagsphilosoph gegenüber: „Ich mache Turin keinen Vorwurf, er ist kein schlechter Mensch (…) Aber das ist nicht der Grund, warum Herr Turin MS bekommen hat. Es gibt Ursachen dafür, aber keinen Grund. Das ist für die Menschen am schwierigsten zu verstehen.“ Die fragwürdigen Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen, die vielen noch immer bestehenden Tabuthemen einer sich als liberal und offen bezeichnenden Gesellschaft und die Themen Freitod und Sterbehilfe bringt Wisser in diesem Roman virtuos zur Sprache. Er bedient sich dabei diverser Kunstgriffe – von assoziativen Kopfkino-Sequenzen seines Romanprotagonisten über märchenhafte Dialoge mit seinem imaginierten Kater Dukakis bis hin zu formalen Tricks, wie mit zwei Textspalten zu arbeiten (einmal das, was ausgesprochen wird und einmal das, was nur gedacht wird) oder besonders explizite Stellen durchzustreichen oder zu schwärzen. Während sich sein Zustand sukzessive verschlechtert und zwei Selbstmordversuche auf geradezu groteske Weise gescheitert sind, reift in Robert Turin der Wunsch, in die Schweiz zu reisen und dort seinem Leben ein selbst gewähltes Ende zu setzen.

Wie humorvoll und klug, mitfühlend und realistisch, kompromisslos und phantasievoll, menschenfreundlich und kunstvoll Wisser davon erzählt, ist beeindruckend und wirkt beim Leser nach der Lektüre sehr lange nach. Daniel Wisser hätte es sich nach dem großen Erfolg von Königin der Berge leicht machen und in dieser Art (ernste und gesellschaftlich relevante Themen auf herzweitende und vergnügliche Weise zu präsentieren) bis an sein Lebensende weiterschreiben können. Und hätte damit wohl die Erwartungen der Leserschaft erfüllt und viele Kritiker zufriedengestellt. Der eigenwillige Mehrsparten- Künstler entschied sich jedoch für einen Verlagswechsel (von Jung und Jung zu Luchterhand) und für einen mit Esprit und leichter Hand geschriebenen literarischen Bastard aus Politik-, Familien- und Liebesroman. Einem Roman, der (auch) Prozesse schildert, die im Kopf stattfinden. Kämpfe zwischen Gedanken und Gefühlen, zwischen Theorie und Praxis. Kämpfe, die sehr oft komische und aberwitzige Züge tragen.

In seinem fünften Roman Wir bleiben noch zeichnet Daniel Wisser am Beispiel einer Wiener Familie mit sozialistischen Wurzeln auf zugespitzte aber sehr sympathische Weise das „österreichische“ Wesen nach und legt den Kern österreichischer Lebensweisen und Lebenslügen auf unterhaltsame Art frei. Die Hauptfigur des Romans, Victor Jarno, ist ein kulturpessimistischer Anti-Held, der Smartphones, E-Scooter, Stand-up-Paddling und SUV-Fahrer verachtet und es als Ausdruck einer „aufrichtigen Haltung“ betrachtet, wenn er im Café Toast Hawaii bestellt. Er wirkt tatsächlich ein wenig aus der Zeit gefallen und kann, da ihm weder Ironie noch Selbstironie fremd sind, über alles und vor allem über sich selbst lachen. Gar nicht zum Lachen bringt ihn jedoch der Zustand der Sozialdemokratie und der Aufstieg der „Christlichsozialen“ und Rechtspopulisten. Was ihn besonders ärgert, ist, dass sich die eigene Mutter, deren Schwester und deren „böse“ Tochter Hanna auch von der Sozialdemokratie abgewandt haben.

Victor, der dem Kinderwunsch seiner (Noch-) Ehefrau Iris mit einer Mischung aus stoischer Gleichgültigkeit und passivem Widerstand begegnet, erlebt Familie als ununterbrochene Herausforderung. Seine Cousine Karoline und die „Urli“ liebt er, den Rest der Verwandtschaft erduldet er, manche davon verachtet er geradezu.

Von Whatsapp-Gruppen ist er genervt und die bestehenden politischen Verhältnisse erfüllen ihn mit Trauer und Resignation. Victor entschließt sich, seinem Credo folgend („Gut ist nur das, was dir guttut)“, dem fremdbestimmten Broterwerb eine Absage zu erteilen und auszusteigen. „Unter dieser Regierung werde ich auch nicht mehr arbeiten. Keinen Groschen Lohnsteuer für diese Sauerei. Aber ich muss bis zu meinem Lebensende mit meinen Ersparnissen auskommen.“ Mit der Rückkehr seiner Cousine Karoline aus Norwegen wendet sich das Blatt für Victor. Die alte heimliche Liebe zwischen den beiden flammt wieder auf – wie Wisser die Entwicklung dieser Liebe von einer zarten Verliebtheit bis hin zum vernunftbefreiten Liebestaumel anhand von SMS-Dialogen und Emoji-Protokollen nachzeichnet, ist ein ebenso witziger wie gelungen, und als ihnen die Großmutter vor ihrem Tod auch noch ihr Haus auf dem Land vererbt, gewinnt Victor langsam wieder Oberwasser. Erbstreitigkeiten, Inzest-Verdacht und diverse Gerüchte um Karolines Vater schildert Wisser mit ebenso viel Witz, Leichtigkeit und Ironie wie die Beziehung zwischen Cousin und Cousine. Mit einem schelmischen Augenzwinkern erzählt er davon, wie der müde gewordene Retro-„Sozi“ Victor und die lebensbejahend-agile Karoline zu einem romantischen „Widerstands“-Paar werden. Daniel Wisser verknüpft in diesem Roman auf amüsante Weise Politik und Familiengeschichte, Gesellschafts- und Liebesroman und changiert zwischen zeithistorischen Erinnerungen (Kreisky, Falk-Zigaretten, Bensdorp-Schokoriegel, Teefix-Werbespot, ÖVP-Chatprotokolle) und einer Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt.

Daniel Wisser liebt die Vielfalt. Er schreibt Prosa, Gedichte, Hörspiele, Songtexte oder zwischendurch auch einmal Erzählungen. In seinem neuen Buch Die erfundene Frau beschäftigt er sich mit der Liebe in all ihren Variationen und mit den Verstrickungen und Verwerfungen, die sie hervorruft.

Wisser erzählt auf lakonische, aber stets auch charmante Weise vom Bedürfnis nach Nähe und dem nach Abstand, dem Wunsch nach Geborgenheit und dem nach Freiheit und Selbstbestimmtheit. Alle 22 Geschichten (die kürzeste umfasst vier Seiten und die längste 28 Seiten) haben Frauennamen als Titel.

In der titelgebenden Geschichte des Erzählbandes wartet er mit einer skurril-ironischen Pointe auf. Von seiner eifersüchtigen Frau Ilona fälschlicherweise verdächtigt, findet Karl Gefallen an seiner imaginierten Freundin Silvia und zieht sie seiner realen Ehefrau bald vor. Wisser gewährt dem Leser kurze und prägnante Einblicke in die komplizierten Beziehungswelten seiner Protagonisten. In Lisa 7 genießt die alleinstehend lebende Andrea die Blicke ihres Nachbarn auf ihren Busen. Noch mehr freut sie sich aber darüber, dass der hilfsbereite Mann trotzdem immer vorbildlich Abstand hält. Allein der Gedanke an eine Affäre macht sie unruhig und lässt sie unweigerlich an gescheiterte Beziehungen denken. Mitunter wirkt es so, als fürchteten Wissers Protagonistinnen die Nähe noch viel mehr als die Einsamkeit. Wohl auch deshalb, weil die Sehnsüchte sehr oft in enttäuschten Erwartungen enden. Oder sogar auf groteske Art. Wie in der Erzählung Frau Ilse, in der sich eine trauernde Witwe zum Trost etwas gönnen will und beim lustvollen Shoppen in einem Luxusladen nicht nur ihren geliebten Hund verliert, sondern auch ihre Freude am Shoppen.

Die Suche nach dem (Liebes-)Glück ist in diesen 22 Erzählungen stets mit der permanenten Gefahr des Scheiterns verknüpft. Letztlich überzeugt auch dieses Buch als vergnügliche Lektüre, die den Leser schmunzeln lässt, zum Nachdenken anregt und möglicherweise auch ein wenig klüger macht. Daniel Wisser zählt mit seinen Büchern zweifellos zu den originellsten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur.

(Erschienen in BÜCHERSCHAU, 2, 2022, Nr. 226), S. 37 – 43)