Schweigen
Ein weiser Mann auf der indischen Seite des Himalaya soll nach Angaben der Dorfbevölkerung zwölf Jahre lang geschwiegen haben. Ein anderer Mann, ein Chinese, dessen genaue Herkunft im Unklaren bleibt, soll aufgrund einer Wette fünfundzwanzig Jahre lang geschwiegen und nach diesen fünfundzwanzig Jahren keine Lust mehr auf lange Gespräche gehabt haben. Ein dritter Mann, namens Josef M., der täglich in der Weinstube Zum Pfauen am selben Tisch sitzend zu Mittag und zu Abend aß, sprach sechsunddreißig Jahre lang kein einziges Wort. Die Kellnerinnen mussten ihm Bestellvorschläge aufzählen und Josef M. nickte nur. Nach sechsunddreißig Jahren sagte die Kellnerin Ridi zu Josef M., er müsse sich an diesem Tag an einen anderen Tisch setzen, da ein Handwerker unter seinem gewohnten Tisch drei Fliesen auszutauschen hatte. Josef M. ging mürrisch zu einem anderen Tisch und sagte zur Kellnerin Ridi: »Halt den Mund!« Dann setzte er sein Schweigen fort, wie viele Jahre weiß niemand, jedenfalls aber bis zu seinem Tod.
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Schweigsame Menschen hatte man schon erlebt, aber eine so ausgreifende und um fassende Schweigsamkeit war noch nie beobachtet worden. Der Mann, der so still wie die Berge am Tisch saß und in die Ferne starrte, sagte nichts.
(Ror Wolf: Die Wortlosigkeit in den Alpen)