Festung der Seligen
3. Oktober 2024
Vor fast zwanzig Jahren habe ich mit der Filmemacherin Nina Kusturica ein Drehbuch geschrieben. Es hieß Festung. Wir waren überzeugt davon, damit unserer Zeit einen bedeutenden Kommentar zur Gesellschaftspolitik und der beginnenden individuellen Orientierungslosigkeit zu geben. Es wurde enormer Aufwand getrieben, denn wir ließen es ins Englische übersetzen, um daran mit James V. Hart, dem Drehbuchautor einiger Coppola-Filme zu arbeiten.
Dann erklärte mir die Produktionsfirma, das Drehbuch werde bei zwei Förderungsstellen eingereicht. Von dort kamen zwei ablehnende Schreiben: Wie könne man nur in Zeiten der Öffnung Europas und der Überwindung der nationalen Grenzen davon ausgehen, dass ein Land wie Österreich sich durch verstärkte Grenzen, Mauern und Zäune zu einer Festung verwandeln wolle? Das sei so absurd, dass man darin nichts Produktionwürdiges sähe.
Wer in Österreich Visionen hat, braucht einen Arzt. Diesen Satz kennen wir schon. Ich würde hinzufügen: Und drei Mal die Woche eine Psychotherapeutin. Es scheint mir, dass die gegenwärtigen Entwicklungen in erschreckender Geschwindigkeit die Vorstellung von Zeit vernichten. Sowohl der Blick in die Vergangenheit ist der Mehrheit der Österreicher verstellt, als auch die Fähigkeit Zukunft zu antizipieren, was für konstruktive Politik unerlässlich ist.
Die Wahlergebnisse von FPÖ und ÖVP, die zusammen leider locker über die Fünfzig-Prozent-Marke kommen, haben die Prognosen diesmal nach oben korrigiert. Und bei aller Kritik, die diese beiden Parteien im Wahlkampf aneinander übten, war in Aussendungen vor der Wahl zu bemerken, dass sie schon eine Formel für ihre Zusammenarbeit gefunden haben. Das Stichwort lautet: Festung. Unser Drehbuch soll also – zwanzig Jahre zu spät – kein Film werden, sondern Wirklichkeit.
Nun sind die Medien, die die Propaganda von der Festung verbreiten, längst nicht mehr traditionelle. Mit FPÖ-TV und ähnlichen Propagandakanälen, deren Desinformation selten aufgedeckt wird, weil diese »Medien« gar nicht mehr für alle gedacht sind, sondern nur für Sympathisanten, ist die Festung aus informationstechnischer Sicht bereits errichtet. Die »klassischen« Medien befördern die Erosion auf der anderen Seite: Sie vertreiben alle, die an guter Berichterstattung interessiert wären, durch nicht aufhören wollendes Sozi-Bashing und ÖVP-höriger Berichterstattung. (Die meisten, die sie vertreiben, gehören übrigens zum bürgerlichen Publikum und wählen gar nicht SPÖ. Sie wollen nur was Ordentliches lesen.)
Da lädt man Josef Kalina in die ZiB2 ein, der wie alle Doskoziloiden von Androsch über Fußi bis Köfer auf die SPÖ beleidigt ist, und sich jederzeit gerne über die Sozialdemokratie auskotzen. Sie wissen, wie’s geht – das beweisen sie als Diener des Großkapitals der Stronachs und Wolfs. Aber: Man lässt sie nicht. Dafür dürfen sie zum anderen Wolf ins Fernsehen. Dort wird die SPÖ nach Gewinn eines Mandats als größter Wahlverlierer gefeiert, während die Kanzler- und frühere Mehrheitspartei ÖVP mit ihrem Minus von 11 Prozentpunkten und schlechtestem Ergebnis durch Nicht-Erwähnung betrauert wird.
Nun gut, die SPÖ hat ja wirklich ihr Wahlziel verfehlt – und zwar deutlich. Doch man muss sich inzwischen auf viel Schlimmeres gefasst machen. Die Medien-Parteien-Allianz hat es auf die völlige Ausrottung der Sozialdemokratie abgesehen (natürlich auch der KPÖ, deren Politikerinnen wie Elke Kahr in der Pressestunde des ORF allen Ernstes gefragt werden dürfen, warum sie alte IKEA -Möbel in ihrer Wohnung haben – eine Frage, die keinem ÖVP-Politiker je gestellt werden würde). In den USA hat sich diese Ausrottung schon vor hundert Jahren abgespielt. Sie bedeutet im Endeffekt, dass das ganze politische Spektrum Rechtsparteien überlassen ist, die in verschiedenen Geschmacksrichtungen prinzipiell Dasselbe bieten.
Im Sozialismus ist der Internationalismus ein zentraler Grundgedanke. Ohne ihn geht es nicht und alle die nationalen Sozialismus denken oder verbreiten wollen, können keine Sozialisten sein. Nun kann man dafür auch andere Begriffe verwenden, denn sobald man in Österreich die Worte »Sozialismus« oder »Internationalismus« sagt oder schreibt, ist man ohnehin schon erledigt.
Eines aber muss klar sein: Die großen Probleme, die es politisch zu bewältigen gibt, sind nicht zu lösen, wenn man Internationalismus ausblendet. Die gewaltigen ökologischen Herausforderungen der Zukunft sind nicht national zu lösen. Selbst wenn die Festung Österreich klimaneutral wird, wird auch das Bundesheer im Assistanzzeinsatz die Luft, die aus anderen Staaten illegal über unsere Grenze migriert, nicht aufhalten können. Doch FPÖ und ÖVP verschließen sich diesem Gedanken kategorisch.
Der selbstbewusst gewordene Provinzialismus, mit dem die Bürgermeister von Hinterdupfing und ihrer Saufkumpanen jetzt alle Bereiche der Politik übernehmen und Verbrennergipfel abhalten, bleibt sachpolitisch völlig untätig. Er ist am Fortkommen seiner Partei und der Verbreitung seiner Propaganda interessiert. Mehr nicht. Da fällt einem nach dem Hochwasser, das sich nach 2002 und 2013 (also alle tausend Jahre) wiederholt, nichts anderes ein, als eine Spendenaktion ins Leben zu rufen – und das wahre Problem weiter zu ignorieren.
Das Problem von Flucht und Migration, das man heute groß auf Wahlplakate schreibt, lässt sich ohne Internationalismus nicht lösen. Dass die Hinterdupfinger, die noch nie einen Migranten gesehen haben, außer die 24-Stunden-Pflegerinnen, die sich für einen Sklavenlohn um ihre Omas und Opas kümmern, mehrheitlich rechts wählen, zeigt nur ihre Frustration mit dem eigenen Leben. Sie wollen dagegen sein und Protest wählen. Nur Dagegen-Sein ist aber eine geringe Qualifikation, um zu regieren.
Die fossile, am Verbrenner festhaltende Gesellschaft, müsste sich nur einmal ein Bild machen von den Ländern, wo ihr geliebter Treibstoff herkommt: Diktaturen, Unrechtsstaaten, Kriege, Bürgerkriege, Umweltkatstrophen und Genozide schaffen dort jene Bedigungen, unter denen jede und jeder fliehen würde. Das Festhalten am Verbrenner ist also auch ein Festhalten daran, dass immer mehr Menschen aus ihrem Land flüchten.
Das Problem der sozialen Ungleichheit, das die wesentliche Verantwortung für die Radikalisierung der westlichen Gesellschaften und der Bekämpfung der Demokratie unter der Regie von Superreichen und Großkonzernen trägt, lässt sich ohne Internationalismus nicht lösen. Demokratie, Gewaltenteilung, Gerechtigkeit, Gleichheit, Pressefreiheit – all das kann nur existieren, wenn die Grundpfeiler der Demokratie stark genug sind und nicht Einzelpersonen Parteien, Medien und ganze Staaten kaufen können.
Zur Bewältigung dieser Probleme braucht man Internationalismus und staatliche Regulierung oder noch besser: supranationale Regulierung. Anders wird es nicht gehen. Man kann die Anhänger des Internationalismus und der Regulierung natürlich lächerlich machen, bashen, verunglimpfen, ihnen »unrealistische« Programme vorwerfen, sie verdammen und bekämpfen.
Es war einmal völlig unrealistisch, dass Menschen alles sozialen Klasse und beider Geschlechter zu einer Wahl gehen können. Es war einmal unrealistisch, die Gleichstellung von Frau und Mann zu fordern. Es galt einmal als völlig unrealistisch, dass tägliche und wöchentliche Arbeitszeiten begrenzt und festgelegt werden, dass alle Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und Bildung haben.
Genau so unrealistisch ist es auch heute, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Die Festung der Seligen, von der die Kickls und Nehammers träumen, wird gar keinen Beitrag dazu bringen und will es auch nicht. Sie möchten im Taumel ihres »Sieges« existieren und die Bevölkerung im Dauerrausch von Konsum und vierzehnstündiger Smartphonenutzung pro Tag still halten. Zum Glück wird es auch in der Festung Widerstand geben. Dieser Widerstand wird – wieder einmal in der Geschichte – die Mauern, die ihn umgeben von innen aufsprengen müssen. Und er wird damit Erfolg haben.
https://zackzack.at/2024/10/03/festung-der-seligen