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Schwarze weiße Weste

Schwarze weiße Weste

28. September 2023

Im August 2019 interviewte Armin Wolf in der ZiB2 im Rahmen einer Gesprächsreihe mit den EU-SpitzenkandidatInnen der Parlamentsparteien den FPÖ-Politiker Harald Vilimsky. Die Folge dieses Interviews war, dass die FPÖ (unterstützt von den Boulevardzeitungen Kronen Zeitung, heute und Österreich, sowie von Ursula Stenzel (vormals ORF) und ORF-Stiftungsrat Norbert Steger) Armin Wolf mit einem Rauswurf aus dem ORF drohte, ihm nahelegte, eine Auszeit zu nehmen, und ankündigte, man werde über Mittel und Wege nachdenken, ORF-JournalistInnen die Äußerung persönlicher Meinungen auf Social-Media-Plattformen zu verbieten.

So sehr sich die heutige ÖVP im Bund als Kritiker des früheren Koalitionspartners hervortut, setzt sie dessen damalige Forderungen Schritt für Schritt um. Neuerdings geht man im Rahmen einer sogenannten ORF-Ethikkommission gegen kleine RedakteurInnen vor – ihnen soll untersagt werden, in Zukunft Lesungen, Diskussionen und Präsentationen zu moderieren.

Betroffen ist etwa die erfahrene ORF-Literaturredakteurin Katja Gasser. Als Expertin für österreichische Literatur hat sie zuletzt den Auftritt Österreichs als Gastland der Buchmesse Leipzig kuratiert. Jetzt wird ihr von ihrem Arbeitgeber verboten, Lesungen zu moderieren, um – wie es heißt – Unabhängigkeit und Objektivität zu gewährleisten.

Nun schreiben viele ORF-ModeratorInnen und -ExpertInnen auch Bücher: Armin Wolf, Peter Filzmair, Hans Bürger, Tarek Leitner und viele andere. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Es muss aber klar sein, dass diese Promis die Bekanntheit, die sie durch ihre Arbeit im ORF erlangt haben, zu einem wirtschaftlichen Vorteil nutzen: Sie bekommen einfacher Buchverträge als AutorInnen, die man nicht aus dem Fernsehen kennt, sie erhalten höhere Vorschüsse, sie bekommen mehr Einladungen zu Lesungen und ein besseres Honorar dafür. Das alles verdienen sie außerhalb des ORF.

Diese Promis drängen nun auf die Lesebühnen von Messen und Literaturveranstaltungen, wo ihre KollegInnen, die sich um die Vermittlung von Literatur und Büchern professionell kümmern, plötzlich nicht mehr moderieren und Diskussionen führen dürfen. Ich erwarte mir von allen BuchautorInnen, die hauptberuflich im ORF arbeiten, dass sie aus Anstand gemeinsam aufstehen und sich gegen diese einseitige Ethik-Richtline aussprechen. Auch und vor allem erwarte ich es mir von Armin Wolf, den viele im Jahr 2019 völlig zurecht aus Solidarität gegen die unglaublichen Angriffe der FPÖ verteidigt haben.

Der ORF gängelt mit dieser Richtlinie die Kleinen und verschont die Großen. Und er widerspricht sich selbst, denn er gewährleistet die Objektivität ja dadurch, dass die RedakteurInnen ihre Beiträge machen, die Programmentscheidungsgewalt aber in anderen Händen liegt – eine Gewaltenteilung, die Sinn macht. Vertrauen scheint der ORF aber in diese Gewaltenteilung offenbar nicht zu haben.

Was im Kleinen exekutiert wird, scheint im Großen nicht einmal angedacht zu sein. Immer noch strahlt der ORF eine Sendung von und mit Vera Rußwurm aus, die in Wahlkämpfen offen für die ÖVP Werbung macht. Die Ausrede, sie sei keine ORF-Angestellte und produziere ihre Sendung selbst (der ORF kaufe sie nur an) ist faul. Zum einen ist der ORF ja nicht gezwungen, Sendungen von ÖVP-Wahlkämpferinnen anzukaufen und seine eigene Ethikkommission könnte ihm an oberster Stelle empfehlen, das nicht zu tun. Zum anderen ist Frau Rußwurm durch jahrezehntelanges Auftreten im ORF erst bekannt geworden. Ihre ganze Existenz basiert auf dem ORF und ihre Freiberuflichkeit ist wie ihre Unabhängigkeit bloßer Schein. Auch, dass die Sendung Bei Vera aufgekündigt wird – was ethisch vollkommen richtig ist – hat Generaldirektor Weißmann sofort wieder zunichte gemacht: Er hat Frau Rußwurm angeboten, neue Kooperationen mit dem ORF einzugehen; offenbar weitere Sendungen, die uns den zitherspielenden Wolfgang Sobotka und ÖVP-Propaganda aus Niederösterreich ins Haus bringen sollen.

Eine weitere Frage ist, wie die Politikredaktionen von der Ethikkommission in die Pflicht genommen werden sollen. Während LiteraturexpertInnen und KulturexpertInnen bei Veranstaltungen ihre Expertise einbringen und damit keinem politischen Ziel folgen, sind die Nachrichtensendungen des ORF voll KommentatorInnen und Experten, die durch Äußerungen im und außerhalb des ORF klare parteipolitische Zugehörigkeit signalisieren.

Ich habe mich schon bei Sophie Karmasin gefragt und frage mich auch bei Peter Filzmaier (Betreuer von Kanzler Karl Nehammer bei seinem Masterstudium an der Donau-Universität Krems), wo ich Unabhängigkeit und Objektivität finden soll. Was wäre passiert, hätte man 2016 festgestellt, dass der wissenschaftliche Betreuer von Christian Kerns Diplomarbeit im ORF Politik analysiert? Ein Sturm der Entrüstung wäre losgebrochen.

Es ist klar: Was im Kleinen gilt, gilt nicht im Großen. Die weiße Weste, die sich der ORF umhängen will, ist schwarz. Hier geht es eigentlich um das Umsetzen dessen, was Vilimsky und Strache bereits im April 2019 ausgesprochen haben: Regierungsparteien geben offen zu, dass sie im ORF das Sagen haben, gängeln unliebsame JournalistInnen und schonen Parteifreunde.

https://zackzack.at/2023/09/28/schwarze-weisse-weste

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Die Vitaminlüge

Die Vitaminlüge

Hörspiel von Daniel Wisser

Do 15.07.2023 um 14:00 auf Ö1

https://oe1.orf.at/programm/20230715/726218/Die-Vitaminluege-von-Daniel-Wisser

Ursendung: 05. Februar 2022 Ö1 (ORF)

Übernahmen: 13. Juli 2022 Deutschlandfunk, 12. Februar 2023 Bayern 2, 23. April 2023 WDR
Produktion: ORF (2021)
Regie: Ursula Scheidle
Dramaturgie: Philip Scheiner
SprecherInnen: Chris Pichler, Andrea Clausen, Linde Prelog, Michou Friesz, Klaus Höring, Bastian Wilplinger, Pippa Galli, Sarah Viktoria Frick, Julien Colombet
Musik: Angelica Castello
Ton: Anna Kuncio, Manuel Radinger

 

Die Vitaminlüge von Daniel Wisser ist das Lieblingshörspiel der Theater- und Medienwissenschafterin Christine Ehardt: „Weil es auf wunderbare Weise mit dem Wechsel von Innen- und Außenräumen des Erzählens spielt und die tragischen wie absurden Momente des Alltags offenlegt. Außerdem mag ich auch kein Obst.“

Carla sehnt sich nach der großen Katastrophe, um frei zu werden, frei von Verpflichtungen, Beziehungen und einem immergleichen Alltag, der ihrem Leben einen letzten Rest von Struktur verleiht. Wir folgen Carla durch diesen Alltag, den sie ihrer Therapeutin, Frau Klarfeldt, am Telefon eindringlich schildert und sich im Laufe der Telefongespräche in alptraumhafte Räume und Begegnungen verwandelt. Immer tiefer dringen wir dabei in Carlas eigentliches Drama vor, das sich zwischen ihr und ihrer Mutter, die sie im Altersheim besucht, vor vielen Jahren ereignet hat. Mutter wie Tochter fühlen sich beide schuldig am Tod des Mannes, des Vaters. Doch darüber wurde und wird nicht gesprochen. Die unselige Verbindung, die die kleine Familie aneinanderhält, ist Quelle für Carlas Katastrophensehnsucht und nervösen, phobisch-neurotischen Zustand.

Daniel Wisser hat dieses Hörspiel im Eindruck der Pandemie und der Lockdowns geschrieben. Er hat, wie er sagt, „mit einer gewissen Faszination bemerkt, dass viele Menschen fast begeistert darüber waren, dass soziale Kontakte und Verpflichtungen wegfielen bzw. leicht und ohne Ausrede abzusagen waren. Der heimliche, immer schon gehegte Wunsch, den bisherigen Alltag hinter sich zu lassen, konnte plötzlich frei ausgelebt werden.“ Also hat sich der Autor „auf die Suche nach den Gründen für die Sehnsucht nach Katastrophen und Untergangsszenarien und die Hintergründe für allzu voreiligen oder haarsträubenden Alarmismus gemacht,“ denn Wisser glaubt, „dass diese nicht in den äußeren Umständen, sondern in persönlichen Frustrationen zu suchen sind.“
In seinem Text durchmisst Daniel Wisser den „Imaginationsraum Hörspiel“ neu, spielt mit Erzähl- und Zeitebenen sowie mit Außen- und Innenräumen. (Ganz im Sinne des doppelten Imperativs nach Ernst Jandl: Hör!Spiel!)

https://oe1.orf.at/programm/20220205/668398/Katastrophensehnsucht-und-Untergangsszenarien-in-Daniel-Wissers-neuem-Hoerspiel

Pandemien und andere Katastrophen können zuweilen auch hilfreich sein: Endlich muss Carla nicht mehr aus dem Haus. Therapie funktioniert schließlich auch per Telefon. Carla telefoniert und dringt immer weiter in ihr persönliches Drama vor.

Carla sehnt sich nach der großen Katastrophe. Endlich wäre sie frei: frei von den lästigen Verpflichtungen, Beziehungen und dem immer gleichen unerfreulichen Alltag, in dem – ausgerechnet ihr – die unmöglichsten Dinge passieren. Warum eigentlich? Am Telefon schildert Carla der Therapeutin Frau Klarfeldt ihr Leben. So dringt sie nach und nach immer tiefer in das Drama vor, das sich zwischen sie und die Welt geschoben hat. Es gibt ein lange zurückliegendes Ereignis, das sie und ihre Mutter aufs Schrecklichste verbindet. Jeden Tag besucht Carla die Mutter im Altersheim, doch darüber sprechen sie nicht. Dabei ist das Familiengeheimnis die Quelle für Carlas Katastrophensehnsucht und ihren prekären Zustand.

https://www.hoerspielundfeature.de/die-vitaminluege-100.html