Kerze

Kerze

 

Aus Trunkenheit, Ausgelassenheit oder Mangel an Streichhölzern zündete sich im April 1912 bei einem Empfang von George Nevis in Béthune in Frankreich einer seiner Gäste seine Zigarre an einer Kerze eines Kandelabers an. Lachend sahen ihn andere Gäste dabei und taten es ihm gleich. Herr Nevis, der den alten Aberglauben kannte, dass ein Seemann stirbt, wenn jemand eine Zigarre mit einer Kerze entzündet, war dabei nicht ganz wohl, denn seine Frau war zu diesem Zeitpunkt Passagierin eines Schiffs nach Amerika, um Verwandte zu besuchen. Dieses Schiff, namens Titanic, sank in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 und Herr Nevis erhielt nach vielen Tagen die Nachricht, seine Frau sei vermutlich unter den Todesopfern der Schiffskatastrophe gewesen. Bald begann Nevis ein Verhältnis mit einer Dame, mit der er schließlich im gemeinsamen Haushalt lebte. Im Jahr 1913 erfuhr Herr Nevis durch einen Freund, dass seine tot geglaubte Gattin noch am Leben sei und nach ihm suche. Sofort eilte er in seine Wohnung und erschoss seine Geliebte mit fünf Revolverschüssen. Zwei weitere gab er gegen sich selbst ab, verletzte sich dabei aber nur leicht. Daraufhin versuchte er sich zu erhängen, wurde aber von den Nachbarn, die, nachdem sie die Schüsse gehört hatten, herbeigeeilt waren, daran gehindert. Man brachte ihn ins Krankenhaus, wo er sofort verhaftet wurde. Und das alles wegen einer Kerze.

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Wir waren beim dem ländlichen Mahle sehr vergnügt, und als ich mir zum Kaffee meine Cigarre anzünden wollte, brachte mir eine meiner Nichten die einzig vorräthige Wachskerze des Hauses, und diese war, wie ich sogleich an der auffallenden Länge und Dünne derselben erkannte, eine Todtenkerze, welche Schurz bei einem Leichenbegängnisse erhalten und getragen hatte. Das war nun freilich bloß ein harmloser Zufall, wirkte aber doch auf mich fast wie ein wehmüthiges Omen.

(Nikolaus Lenau: Briefe)