Keine große Begebenheit
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass alle hörbare Musik nur so viel wert ist, als unhörbare Musik in ihr enthalten ist, daran ist gar kein Zweifel. Denn die Welt des Offensichtlichen und Offenhörlichen reduziert sich schnell auf alle denkbaren oder errechenbaren Möglichkeiten des jeweiligen Systems, mit dem man sie einzuteilen sucht.
Ich kann Ihnen über Joseph Haydn nichts berichten. Ich kann Ihnen nur berichten, worüber bereits berichtet wurde und aus den Leerstellen, aus der Vorstellung davon, worüber noch niemals berichtet wurde, können Sie sich Ihren eigenen Bericht zusammendenken.
Ich bin kein Musiker, kein Musikwissenschaftler, kein Biograf. Ich habe die ersten drei Jahre meines Berufslebens in der Redaktion einer Zeitung verbracht, in der man mich als Adepten Nachrufe auf noch lebende Persönlichkeiten und Berühmtheiten verfassen ließ. Ich ließ also Menschen sterben, die gar nicht gestorben waren. Oder ich erfand Menschen und ließ sie sterben. Viele dieser Nachrufe wurden tatsächlich abgedruckt. So ließ ich im Jahr 1840 den Dichter Johann Gabriel Seidl sterben, der einen Text zu einem Thema eines Satzes eines Streichquartetts von Joseph Haydn verfasst hatte, das heute als Kaiserhymne bezeichnet wird. Der Widerruf dieses verfrühten Nachrufs war nicht annährend so populär wie meine falsche Todesmeldung. Und die Todesmeldung, die fünfunddreißig Jahre später auf Seidls tatsächlichen Tod folgte, war nicht annährend so erfolgreich wie meine falsche Todesmeldung.
Seit Jahren, seit Jahrzehnten fragt man mich, wann ich meine Biografie von Joseph Haydn endlich fertigstellen werde. Mein Damen und Herren! Ich habe noch nicht einmal begonnen, sie zu schreiben. In der Redaktion sitzend, Nachrufe von lebenden Menschen schreibend habe ich das Wesen der Biografie begriffen. Eine Biografie ist wie ein Nachruf oder Nekrolog nichts anderes als die Darstellung eines Lebens im Krebs, also von hinten nach vorne, von den Klarheiten und Offensichtlichkeiten der Gegenwart bis zu den Unklarheiten und Mystifikationen der Vergangenheit. Verstanden habe ich diese Tatsache, als ich eine Meldung über den Tod von Leon Czolgosz, jenes Mannes, der im Jahr 1901 zweimal auf den amerikanischen Präsidenten MacKinley geschossen hatte und sieben Wochen nach diesem Attentat auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde, schreiben musste. Mehr als die Tatsache, dass Czolgosz diese Tat verübt hatte, worüber er sich im Übrigen geständig zeigte, konnte man in keinem Bericht, keinem Nachruf und keiner Biografie erfahren. Zu keiner Zeit herrschte über seinen Namen Klarheit. Nach dem Attentat war er der Welt von der Presse als Fred Nieman, Arbeiter aus Detroit oder Toledo, vorgestellt worden, sodann als ungarischer Anarchist namens Leon Czolgosz, dann als Russe namens Sholgush, schließlich als Pole mit dem Namen Leon F. Czolgosz, wobei das F. einmal für Fred gestanden haben soll, dann wieder für František, schließlich als von Czolgosz selbst erfunden und gar keinen Vornamen bezeichnend bezeichnet wurde. Bis zu seiner Hinrichtung konnte keine Geburtsurkunde von Czolgosz beschafft werden. Jahr und Ort seiner Geburt sind bis heute unklar. In fünfzehn psychologischen Gutachten kamen fünfzehn Gutachter zu fünfzehn einander widersprechenden Aussagen über seinen Geisteszustand. Über seine Reisen wurden Dinge berichtet, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind. Czolgosz bewegte sich in seinem Leben angeblich nie weiter nördlich als Alpena und soll doch in Alaska und Kanada in Verbrechen verwickelt gewesen sein; er spielte offenbar eine wesentliche Rolle bei den Bergarbeiteraufständen in den Anden, doch wird behauptet, er sei nie südlicher als bis Pittsburgh gereist; nie soll er weiter nach Westen als bis Fort Wayne gekommen sein und doch ist er McKinley vor dem Attentat angeblich bis Kalifornien nachgereist; es wurde über seine Anwesenheit bei Arbeiterunruhen in Pennsylvania berichtet und doch kam er nie weiter östlich als Buffalo.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Punkt: Wir wissen wenig über Leon Czolgosz. Und wir wissen wenig über Joseph Haydn. Wir erinnern uns Haydns an seinem Todestag, weil wir seinen Geburtstag nicht kennen. In vielen Jahren des Studiums seiner Briefe, Aufzeichnungen, Autographen und Biografien, hielt mich ein Satz für die nächsten dreißig Jahre vom weiteren Studium ab; ein Satz, der auf Seite 6 von Georg August Griesingers Haydn-Biografie steht: »Haydns Lebenslauf zeichnet sich durch keine große Begebenheit aus.«
Jahrelang, jahrzehntelang fühlte ich mich von Griesinger ertappt. Ich war der festen Überzeugung, dass Griesinger mit diesem Satz nicht eigentlich Haydn, sondern mich gemeint hatte. Ich brauchte dreißig Jahre, um festzustellen, dass dieser Satz völlig unrichtig war. Griesinger war ein selbstbewusster, hemdsärmeliger Geschäftsmann und hatte Übung darin, sich selbst hervorzutun, um andere Personen auszulöschen. Als zu Haydns 73. Geburtstag eine Cantate des damals blutjungen Franz Xaver Wolfgang Mozart, des Sohnes von Wolfgang Amadeus Mozart, aufgeführt wurde, behauptete Griesinger, ein Beamter und Legationsrat, dem das Ritterkreuz zuteil wurde und der in den Adelsstand erhoben wurde, der aber nie in seinem Leben eine einzige Note zu Papier gebracht hatte, die Komposition sei zur Gänze von ihm.
Griesinger irrt. Joseph Haydn hatte ein bewegtes Leben. Er war fast sechzig, also in einem Alter, das weder Mozart noch Beethoven erreicht hatten, als er in Cambridge die Ehrendoktorwürde erhielt. Er wurde in den Neunzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts in ganz Europa gerühmt. Er unterhielt in hohem Alter drei Liebschaften, von denen wir nicht wissen, wie weit sie gingen, von denen allerdings die Briefwechsel erhalten sind: der Briefwechsel mit Marianne von Genzinger in deutscher Sprache; der Briefwechsel mit Rebecca Schröter, der nicht ohne erotische Details ist, in englischer Sprache; der Briefwechsel mit Luigia Polzelli, deren Sohn – wie mancherorts behauptet wird – ein uneheliches Kind Haydns gewesen sein soll, in italienischer Sprache.
Was sagt dies alles über Haydns Musik aus? Nichts. Haydn war gewiss ein Neuerer, ein Geist, der Ungehörtes zu Gehör brachte und dessen musikalischer Abschied von der Welt doch ungehört bleibt. Ich spreche von Haydns letztem Streichquartett, Opus 103, von dem der Anfang und das Ende, also der erste und der vierte Satz, gar nicht existieren und auch die beiden Mittelsätze Fragmente blieben. Auf die unhörbare Musik, die in diesem Fragment steckt, möchte ich Sie höflichst hinweisen.
Meine Damen und Herren! Ich kann Ihnen nicht mehr bieten als diese Worte. Ich werde niemals eine Biografie von Joseph Haydn schreiben. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als dass ich über Joseph Haydn, der im übrigen Franz Joseph Haydn hieß, nicht mehr zu sagen habe. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.